Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 63

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der Grundlagen des Reproduktionsprozesses verlieren sich in jener sagenhaften Dämmerung der Kulturgeschichte, in der sich auch die Entstehungsgeschichte des Mörissees des Herodot verliert. Mit dem technischen Fortschritt und der Kulturentwicklung ändert sich die Gestalt der Produktionsmittel, plumpe Paläolithen werden durch geschliffene Werkzeuge ersetzt, Steinwerkzeuge durch elegante Bronze- und Eisengeräte, Handwerkzeug durch Dampfmaschine. Aber bei all dem Wechsel in der Gestalt der Produktionsmittel und den gesellschaftlichen Formen des Produktionsprozesses besitzt die Gesellschaft als Grundlage ihres Arbeitsprozesses stets eine gewisse Menge vergegenständlichter vergangener Arbeit, die ihr als Basis für die jährliche Reproduktion dient.

Bei der kapitalistischen Produktionsweise erhält die in den Produktionsmitteln aufgespeicherte vergangene Arbeit der Gesellschaft die Gestalt von Kapital, und die Frage nach der Herkunft der vergangenen Arbeit, welche die Grundlage des Reproduktionsprozesses bildet, verwandelt sich in die Frage nach der Genesis des Kapitals. Diese ist freilich viel weniger sagenhaft, vielmehr mit blutigen Lettern in die neuzeitliche Geschichte eingetragen als das Kapitel von der sogenannten ursprünglichen Akkumulation. Die Tatsache selbst aber, daß wir uns die einfache Reproduktion nicht anders als unter Voraussetzung vergangener aufgespeicherter Arbeit denken können, die an Umfang die jährlich zur Erhaltung der Gesellschaft geleistete Arbeit übertrifft, berührt die wunde Stelle der einfachen Reproduktion und beweist, daß sie nicht bloß für die kapitalistische Produktion, sondern für den Kulturfortschritt im allgemeinen bloß eine Fiktion ist. Um uns nur diese Fiktion selbst exakt – im Schema – vorzustellen, müssen wir als ihre Voraussetzung die Ergebnisse eines vergangenen Produktionsprozesses annehmen, der selbst unmöglich auf die einfache Reproduktion beschränkt, vielmehr bereits auf die erweiterte Reproduktion gerichtet war. Zur Erläuterung dieser Tatsache an einem Beispiel können wir das gesamte fixe Kapital der Gesellschaft mit einer Eisenbahn vergleichen. Die Dauerhaftigkeit und also auch der jährliche Verschleiß verschiedener Teile der Eisenbahn sind sehr verschieden. Solche Teile wie Viadukte, Tunnels können Jahrhunderte dauern, Lokomotiven Jahrzehnte, sonstiges rollendes Material wird sich in ganz kurzen Fristen, zum Teil in wenigen Monaten abnutzen. Es ergibt sich aber dabei ein gewisser durchschnittlicher Verschleiß, der, sagen wir, 30 Jahre ausmachen, also jährlich auf den Wertverlust von 1/30 des Ganzen hinauslaufen wird. Dieser Wertverlust wird nun fortlaufend wieder ersetzt durch teilweise Reproduktion der Eisenbahn (die als Reparaturen figu-

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