Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 599

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Ausplünderung durch die Europäer den hartnäckigsten Widerstand entgegensetzte. Um den Grund und Boden aus den Händen ihrer bisherigen Eigentümer zu reißen, mußte man vorerst feststellen, wer der Eigentümer des Grund und Bodens war. Um Steuern nicht bloß aufzuerlegen, sondern auch eintreiben zu können, mußte man die Haftbarkeit der Besteuerten feststellen. Hier stießen nun die Europäer in ihren Kolonien auf ihnen völlig fremde Verhältnisse, die alle ihre Begriffe von der Heiligkeit des Privateigentums direkt auf den Kopf stellten. Dies war gleichermaßen die Erfahrung der Engländer in Südasien wie der Franzosen in Nordafrika.

Gleich zu Anfang des 17. Jahrhunderts begonnen, endete die Eroberung Indiens durch die Engländer nach schrittweiser Einnahme der ganzen Küste und Bengalens erst im 19. Jahrhundert mit der Unterwerfung des wichtigsten Fünfstromlandes im Norden. Nach der politischen Unterwerfung begann aber erst das schwierige Werk der systematischen Ausbeutung Indiens. Die Engländer erlebten dabei auf Schritt und Tritt die größten Überraschungen: Sie fanden verschiedenartigste große und kleine Bauerngemeinden, die seit Jahrtausenden auf dem Boden saßen, Reis bauten und in stillen, geordneten Verhältnissen lebten, aber – o Graus! – nirgends fand sich in diesen stillen Dörfern ein Privateigentümer des Grund und Bodens. Wen man auch packte, keiner durfte das Land oder die von ihm bearbeitete Landparzelle sein nennen, also auch nicht verkaufen, verpachten, verschulden, für rückständige Steuern verpfänden. Alle Mitglieder solcher Gemeinden, die manchmal ganze große Geschlechter umfaßten, manchmal nur wenige vom Geschlecht abgezweigte Familien, hielten zäh und treu zusammen, und die Blutsbande untereinander galten ihnen alles, das Eigentum des einzelnen dagegen nichts. Ja, die Engländer mußten zu ihrem Erstaunen an den Ufern des Indus und des Ganges solche Muster von ländlichem Kommunismus entdecken, vor denen auch die kommunistischen Sitten der alten germanischen Markgenossen oder der slawischen Dorfgemeinden schon beinahe als Sündenfall ins Privateigentum anmuten.

„Wir sehen“, hieß es im Bericht der englischen Steuerbehörde aus Indien vom Jahre 1845, „keine ständigen Anteile. Jeder besitzt den bebauten Anteil nur so lange, wie die Ackerbauarbeiten dauern. Wird ein Anteil unbebaut gelassen, so fällt er ins Gemeindeland zurück und kann von jedem anderen genommen werden unter der Bedingung, daß er bebaut wird.“ [1]

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[1] Zit. nach: Maxim Kowalewskl: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Tell 1, Moskau 1879, S. 81.