Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 579

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die raffinierteste, auf wissenschaftlicher Erkenntnis basierte Planmäßigkeit. Dort klappt alles aufs wunderbarste, von einem Willen, einem Bewußtsein geleitet. Kaum verlassen wir aber die Tore der Fabrik oder der Farm, als uns auch schon das Chaos empfängt. Während die zahllosen Einzelteile – und ein heutiger Privatbetrieb, auch der riesigste, ist nur ein Splitter der großen Wirtschaftsbande, die sich über die ganze Erde erstrecken –, während die Einzelteile aufs strengste organisiert sind, ist das Ganze der sogenannten „Volkswirtschaft“, das heißt der kapitalistischen Weltwirtschaft, völlig unorganisiert. In dem Ganzen, das sich über Ozeane und Weltteile schlingt, macht sich kein Plan, kein Bewußtsein, keine Regelung geltend; nur blindes Walten unbekannter, ungebändigter Kräfte treibt mit dem Wirtschaftsschicksal der Menschen sein launisches Spiel. Ein übermächtiger Herrscher regiert freilich auch heute die arbeitende Menschheit: das Kapital. Aber seine Regierungsform ist nicht Despotie, sondern Anarchie.

Und diese eben macht es, daß die gesellschaftliche Wirtschaft Resultate hervorbringt, die den beteiligten Menschen selbst unerwartet und rätselhaft sind, sie macht es, daß die gesellschaftliche Wirtschaft zu einer uns fremden, entäußerten, von uns unabhängigen Erscheinung geworden ist, deren Gesetze wir ebenso ergründen müssen, wie wir die Erscheinungen der äußeren Natur untersuchen, wie wir die Gesetze zu ergründen suchen, die das Leben des Pflanzenreichs und des Tierreichs, die Veränderungen in der Erdrinde und die Bewegungen der Himmelskörper beherrschen. Die wissenschaftliche Erkenntnis muß hinterdrein den Sinn und die Regel der gesellschaftlichen Wirtschaft aufdecken, die der bewußte Plan ihr nicht von vornherein diktiert hat.

Es ist nun klar, weshalb es den bürgerlichen Nationalökonomen unmöglich ist, das Wesen ihrer Wissenschaft klar herauszuheben, den Finger in die Wunde ihrer Gesellschaftsordnung zu legen, sie in ihrer inneren Gebrechlichkeit zu denunzieren. Erkennen und bekennen, daß Anarchie das Lebenselement der Kapitalsherrschaft ist, heißt in gleichem Atem das Todesurteil sprechen, heißt sagen, daß ihrer Existenz nur eine Gnadenfrist gewährt ist. Es ist nun klar, weshalb die offiziellen wissenschaftlichen Anwälte der Kapitalsherrschaft mit allen Wortkünsteleien die Sache zu verschleiern, den Blick vom Kern auf die äußere Schale, von der Weltwirtschaft auf die „Volkswirtschaft“ zu richten suchen. Bereits bei dem ersten Schritt über die Schwelle der nationalökonomischen Erkenntnis, bereits bei der ersten grundlegenden Frage: was die Nationalökonomie eigentlich und was ihr Grundproblem sei, scheiden sich heute die Wege der bürger-

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