Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 484

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es die Kapitalakkumulation, die das Bevölkerungswachstum beeinflußt und bestimmt, nicht umgekehrt. Ja, im allgemeinen läßt sich die Einwirkung der kapitalistischen Entwicklung auf die Bewegung der Bevölkerung in dem Sinne konstatieren, daß sie mehr oder minder rasch sicher eine Verlangsamung des Bevölkerungswachstums herbeiführt. Hongkong und Borneo gegen Deutschland und England, Serbien und Rumänien gegen Frankreich und Italien sprechen deutlich genug.

Und nach alledem folgt wie auf flacher Hand der Schluß: Die Bauersche Theorie stellt die wirklichen Zusammenhänge auf den Kopf. Indem Bauer in seinen schematischen Konstruktionen die Kapitalakkumulation sich dem natürlichen Bevölkerungswachstum anpassen läßt, hat er wieder die alltägliche, aller Welt bekannte Tatsache der realen Wirklichkeit total aus dem Auge verloren, daß das Kapital vielmehr die Bevölkerung selbst modelt; bald rottet es sie massenweise aus, bald beschleunigt und bald verlangsamt es ihr Wachstum – mit dem allgemeinen Schlußresultat: je rascher die Akkumulation, um so langsamer der Zuwachs der Bevölkerung.

Ein schönes Quiproquo dies für einen historischen Materialisten, der vergißt, sich nach der Wirklichkeit ein wenig umzuschauen und sich zu fragen, ja, wovon hängt denn das Bevölkerungswachstum selbst ab, von dem er die Kapitalakkumulation abhängig macht? Friedrich Albert Lange sagte gelegentlich in seiner „Geschichte des Materialismus“: „Wir haben in Deutschland noch heutzutage sogenannte Philosophen, welche in einer Art von metaphysischer Tölpelhaftigkeit große Abhandlungen über die Vorstellungsbildung schreiben – wohl gar noch mit dem Anspruch auf ,exakte Beobachtung mittels des inneren Sinns‘ –, ohne auch nur daran zu denken, daß es, vielleicht in ihrem eigenen Hause, Kinderstuben gibt, in welchen man wenigstens die Symptome der Vorstellungsbildung mit seinen Augen und Ohren beobachten kann.“[1] Ob es solche „Philosophen“ in Deutschland jetzt noch gibt, ist mir unbekannt, aber die Spezies der „metaphysischen Tölpelhaftigkeit“, die durch exakte schematische Kalkulationen mittels des „inneren Sinns“ gesellschaftliche Probleme lösen will und dabei Augen, Ohren, die Welt und die Kinderstube vergißt, scheint jetzt in den „Sachverständigen“ des offiziellen Marxismus die berufenen „Erben der klassischen deutschen Philosophie“ gefunden zu haben.

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[1] Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn 1866, S. 147.