Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 458

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„willkürlich und nicht frei von Widersprüchen“? Greift das von mir angeschnittene Problem in die Wurzeln des Imperialismus ein, oder hat es mit den Erscheinungen „des heute pulsierenden Lebens nicht das geringste zu tun“? Und was sollen die, wie Eckstein schreibt, „berühmt gewordenen” Marxschen Schemata schließlich darstellen: einen nur theoretisch gedachten „Gleichgewichtszustand“ der Produktion, ein Bild der realen Wirklichkeit, einen Beweis für die Möglichkeit „jeder Ausdehnung“, also schrankenlosen Wachstums der Produktion, einen Beweis ihrer Unmöglichkeit angesichts der Unterkonsumtion, eine Anpassung der Produktion an die Schranke des Bevölkerungswachstums, den Pannekoekschen „gewichtslosen“ Kinderballon oder noch etwas anderes, vielleicht ein Kamel oder ein Wiesel? Es ist bald Zeit, daß die „Sachverständigen“ anfangen, sich über die Sache zu verständigen.

Inzwischen ein schönes Bild der Klarheit, Harmonie und Geschlossenheit des offiziellen Marxismus in bezug auf den grundlegenden Teil des zweiten Bandes des Marxschen „Kapitals“! Und eine treffende Legitimation zu der Hochnäsigkeit, mit der diese Herren mein Buch abgekanzelt haben![1]

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[1] Der Rezensent des „Vorwärts”, Eckstein, hat von dem, um was es sich in der Sache eigentlich handelt, von allen „Sachverständigen” am wenigsten kapiert. Er gehört zu jener mit dem Wachstum der Arbeiterpresse aufgekommenen Gattung von Journalisten, die jederzeit über alles schreiben können: über japanisches Familienrecht, moderne Biologie, Geschichte des Sozialismus, Erkenntnistheorie, Ethnographie, Kulturgeschichte, Nationalökonomie, taktische Probleme – was man gerade braucht. Solche Universalschreiber bewegen sich dann auf sämtlichen Gebieten des Wissens mit jener skrupellosen Sicherheit, um die sie ein ernster Forscher aufrichtig beneiden kann. Wo ihnen aber jegliches Verständnis für den „übernommenen” Gegenstand abgeht, ersetzen sie es dadurch, daß sie dreist und massiv werden. Hier nur zwei Beispiele dafür: „Erkennt man schon hier”, sagt E. an einer Stelle seiner Rezension, „daß die Verfasserin Sinn und Zweck der Marxschen Darstellung verkannt hat, so wird diese Erkenntnis durch den übrigen Inhalt des Buches bestätigt. Vor allem ist ihr schon die Technik dieser Schemata vollkommen unklar geblieben. Das zeigt sich bereits auf S. 72 des Buches sehr deutlich.” Dort handelt es sich nämlich darum, daß Marx die Geldproduktion in seinem Schema zur Abteilung der Produktionsmittel zählt. Ich kritisiere dies in meinem Buche und suche zu zeigen, daß, da Geld eben als solches nicht Produktionsmittel, sich aus jener Vermengung notwendigerweise große Schwierigkeiten der exakten Darstellung ergeben müssen. Dazu gibt Eckstein folgenden Senf: „Genossin Luxemburg beanstandet nun, daß Marx die Produktion des Geldmaterials, also von Gold und Silber, in die Reihe I eingliedert und zur Produktion von Produktionsmitteln rechnet. Das sei fehlerhaft. Deshalb setzt sie unter die beiden von Marx aufgestellten Reiben noch eine dritte, welche die Produktion des Geldmaterials veranschaulichen soll. Das ist gewiß zulässig; aber man ist gespannt, wie nun die gegenseitige Umsetzung in den drei Reihen vor sich gehen soll.” [Hervorhebung – R. L.] Und nun findet ee sich bitter enttäuscht! „In dem von Gen. Luxemburg aufgestellten Schema ist die Schwierigkeit – nicht nur sehr groß, sie ist unüberwindlich ... Sie selbst macht aber nicht den geringsten Versuch, diese ,organischen Verschlingungen‘ darzustellen. Der bloße Versuch hätte ihr zeigen müssen, daß ihr Schema unmöglich ist” und so mit Grazie fort. Dabei ist das „von Gen. Luxemburg aufgestellte Schema” auf S. 72 gar nicht von mir „aufgestellt”, sondern – von Marx! Ich schreibe hier einfach die im „Kapital”, Bd. II, S. 446 [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 466.], angegebenen Zahlen ab, gerade um zu zeigen, daß sich nach Marxschen Angaben die Eingliederung der Geldproduktion nicht durchführen lasse, was ich mit folgenden ausdrücklichen Worten einleite: „Übrigens zeigt ein Blick auf das (Marxsche) Reproduktionsschema selbst, zu welchen Unzuträglichkeiten die Verwechselung der Austauschmittel mit Produktionsmitteln führen müßte.” [Siehe S. 72 f.] Und da kommt Eckstein, schiebt mir das Marxsche Schema, das ich kritisiere, in die Schuhe und kanzelt mich auf Grund dieses Schemas wie eine dumme Göre ab, daß mir „schon die Technik dieser Schemata” vollkommen unklar geblieben sei.

Ein anderes Beispiel. Marx hat auf S. 487 des „Kapitals”, Bd. II [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 505.], sein erstes Schema der Akkumulation aufgestellt, in dem er die Kapitalisten der einen Abteilung immer 50 Prozent ihres Mehrwertes kapitalisieren läßt, die der anderen Abteilung aber, wie’s Gott gefällt, ohne jede ersichtliche Regel, nur nach dem Bedarf der ersten Abteilung. Dicse Annahme suche ich zu kritisieren als eine willkürliche. Da kommt wieder Eckstein mit folgendem Guß: „Der Fehler liegt in der Art ihrer Rechnung selbst, und diese zeigt, daß sie das Wesen der Marxschen Schemata nicht erfaßt bat. Sie glaubt nämlich, diesen liege die Forderung einer gleichen Akkumulationsrate zugrunde, d. h„ sle setzt voraus, daß in beiden betrachteten Hauptabteilungen der gesellschaftlichen Produktion stets im gleichen Verhältnis akkumuliert, d. h. ein gleicher Teil des Mehrwerts zum Kapital geschlagen werde. Das ist aber eine ganz willkürliche Annahme, die den Tatsachen widerspricht ... In Wirklichkeit gibt es keine solche allgemeine Akkumulationsrate, und sie wäre auch theoretisch ein Unding.” Hier liege „ein kaum begreiflicher Irrtum der Verfasserin vor, der neuerdings zeigt, daß ihr das Wesen der Marxschen Schemata völlig rätselhaft geblieben ist”. [Hervorhebung – R. L.] Das wirkliche Gesetz der gleichen Profitrate stehe „im vollen Gegensatz zum eingebildeten Gesetz der gleichen Akkumulation” usw„ mit der saftigen Gründlichkeit, gesalzen und gepfeffert, wie Eckstein nun einmal meine Vernichtung besorgt. Wenn schon – denn schon. Nun stellt aber Marx fünf Seiten weiter ein zweites Beispiel seines Schemas der Akkumulation auf, und zwar das eigentliche, grundlegende, mit dem er dann ausschließlich bis zu Ende operiert, während jenes erste bloß ein Versuch, ein vorläufiger Entwurf war. Und in diesem zweiten, endgültigen Beispiel nimmt Marx ständig die gleiche Akkumulationsrate, „das eingebildete Gesetz” in beiden Abteilungen an! Das „theoretische Unding”, der „volle Gegensatz zum wirklichen Gesetz der gleichen Profitrate', diese ganze Summe von kapitalen Vergehen und Verbrechen findet sich im Marxschen Schema auf S. 496 des „Kapitals”; Bd. II [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 24; S. 514.], und Marx verharrt in diesen Sünden bis zut letzten Zeile des Bandes. Der Guß geht also wieder dem unglücklichen Marx über den Rücken, dieser ist es offenbar, dem „das Wesen” seiner eigenen Schemata „völlig rätselhaft geblieben ist”. Welches Pech er übrigens nicht nur mit mir, sondern auch mit Otto Bauer teilt, der bei seinem eigenen „einwandfreien” Schema gleichfalls als Voraussetzung ausdrücklich aufzählt, „daß die Akkumulationsrate in beiden Produktionssphären gleich sei”. (Neue Zeit, 1. c„ S. 838.) Das ist Ecksteinsche Kritik. Und von einem solchen Burschen, der nicht einmal das Marxsche „Kapital” ordentlich durchgelesen hat, muß man sich Unverschämtheiten an den Kopf werfen lassen! Daß eine derartige „Rezension” überhaupt im „Vorwärts” erscheinen konnte, ist eine bezeichnende Blüte der Herrschaft der „austromarxistischen” Epigonenschule in den beiden Zentralorganen der Sozialdemokratie, und ich werde mir, so mir Gott gestattet, die zweite Auflage meines Buches zu erleben, nicht nehmen lassen, diese Perle im Anhang in vollem Abdruck für die Nachwelt zu retten!