Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 312

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werden müssen, um in die tätige Armee des Kapitals enrolliert zu werden. Der Prozeß der Ausscheidung der Arbeitskräfte aus primitiven sozialen Verhältnissen und ihr Aufsaugen durch das kapitalistische Lohnsystem ist eine der unumgänglichen historischen Grundlagen des Kapitalismus. Die englische Baumwollindustrie als erster echt kapitalistischer Produktionszweig wäre unmöglich nicht bloß ohne die Baumwolle der Südstaaten der nordamerikanischen Union, sondern auch ohne die Millionen Afrikaneger, die nach Amerika verpflanzt wurden, um die Arbeitskräfte für die Plantagen zu liefern, und nach dem Sezessionskriege als freies Proletariat der kapitalistischen Lohnarbeiterklasse zugewachsen sind.[1] Die Wichtigkeit des Bezuges von erforderlichen Arbeitskräften aus nichtkapitalistischen Gesellschaften wird dem Kapital sehr fühlbar in der Form der sogenannten Arbeiterfrage in den Kolonien. Der Lösung dieser Frage dienen alle möglichen Methoden der „sanften Gewalt“, um die anderen sozialen Autoritäten und Produktionsbedingungen untergeordneten Arbeitskräfte von diesen loszulösen und dem Kommando des Kapitals zu unterstellen. Aus diesem Bestreben ergeben sich in den Kolonialländern die seltsamsten Mischformen zwischen modernem Lohnsystem und primitiven Herrschaftsverhältnissen.[2] Diese illustrieren handgreiflich die Tat-

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[1] Eine kurz vor dem Sezessionskriege in den Vereinigten Staaten veröffentlichte Tabelle enthielt folgende Angaben über den Wert der jährlichen Produktion der Sklavenstaaten und die Zahl der beschäftigten Sklaven, von denen die übergroße Mehrzahl auf den Baumwollplantagen arbeitete:

Baumwolle Sklaven
1800 5,2 Mill. Doll. 893041
1810 15,1 Mill. Doll. 1191364
1820 26,3 Mill. Doll. 1543688
1830 34,1 Mill. Doll. 2009053
1840 74,6 Mill. Doll. 2487255
1850 101,8 Mill. Doll. 3179509
1851 137,3 Mill. Doll. 3200000

(Simons: Klassenkämpfe in der Geschichte Amerikas. Ergänzungsheft der „Neuen Zelt“, No.7, S. 39.) – [Fußnote im Original]

[2] Ein Musterbeispiel solcher Mischformen schildert der frühere englische Minister Bryce in den südafrikanischen Diamantgruben. „Die interessanteste Sehenswürdigkeit Kimberleys, die einzig in der Welt dasteht, sind die beiden sogen. ‚Compounds‘, wo die in den Bergwerken beschäftigten Eingeborenen beherbergt und eingesperrt werden. Es sind ungeheure Einfriedungen ohne Dach, aber mit einem Drahtnetz überspannt, um zu verhindern, daß etwas über die Mauern geworfen wird. Ein unterirdischer Gang führt zu dem benachbarten Bergwerk. Es wird in drei 8stündigen Schichten gearbeitet, so daß der Arbeiter nie länger als 8 Stunden hintereinander unter der Erde ist. An der Innenseite der Mauer sind Hütten errichtet, wo die Eingeborenen wohnen und schlafen. Auch ein Hospital ist innerhalb der Umfriedung vorhanden sowie eine Schule, wo die Arbeiter in ihrer freien Zelt lesen und schreiben lernen können. Geistige Getränke werden nicht verkauft. – Alle Eingänge werden streng bewacht, und keine Besucher, weder Eingeborene noch Weiße, erhalten Zutritt; die Lebensmittel werden von einem innerhalb der Mauern befindlichen, der Gesellschaft gehörigen Laden geliefert. Das Compound der De Beers-Grube beherbergte zur Zeit meines Besuches 2600 Eingeborene aller möglichen Stämme, so daß man dort Exemplare der verschiedensten Negertypen von Natal und Pondoland im Süden bis zum Tanganjikasee im fernen Osten sehen konnte. Sie kommen von allen Himmelsrichtungen, durch die hohen Löhne, gewöhnlich 18–30 M die Woche, herbeigelockt, und bleiben dort 3 Monate und länger, zuweilen sogar für lange Zeit ... In diesem weiten, rechteckigen Compound sieht man Zulus aus Natal, Fingos, Pondos, Tembus, Basutos, Betschuanas, Untertanen Gungunhanas aus den portugiesischen Besitzungen, einige Matabeles und Makalakas und viele sog. Zambesi-Boys von den an beiden Ufern dieses Flusses wohnenden Stämmen. Sogar Buschmänner oder wenigstens Eingeborene, die von Buschmännern stammen, fehlen nicht. Sie wohnen friedlich zusammen und vergnügen sich in ihren freien Stunden auf ihre Art. Außer Glücksspielen sahen wir noch ein Spiel, das, dem englischen ‚Fuchs und Gänse‘ ähnlich, mit Steinen auf einem Brett gespielt wird; auch Musik wurde auf zwei primitiven Instrumenten gemacht: auf dem sog. Kaffernklavier; das aus ungleich langen, nebeneinander in einem Rahmen befestigten Eisenplättchen besteht, und auf einem noch kunstloseren Instrument, aus ungleich langen, harten Holzstückchen gefertigt, denen man durch Anschlagen verschiedene Töne, die Rudimente einer Melodie entlocken kann. Einige wenige lasen oder schrieben Briefe, die übrigen waren mit Kochen oder Schwatzen beschäftigt. Manche Stämme schwatzen ununterbrochen, und man kann in dieser seltsamen Negerretorte ein Dutzend Sprachen hören, wenn man von Gruppe zu Gruppe geht.“ – Die Neger pflegen nach mehreren Monaten Arbeit mit ihrem aufgesparten Lohn das Bergwerk zu verlassen, um zu ihrem Stamme zurückzukehren, sich für das Geld eine Frau zu kaufen und wieder in ihren hergebrachten Verhältnissen zu leben. (James Bryce: Impressions of South Africa, 1897, deutsche Ausgabe 1900, S. 206.) Ebenda siehe auch die recht lebendige Schilderung der Methoden, wie man in Südafrika die „Arbeiterfrage“ löst. Wir erfahren da, daß man die Neger zur Arbeit in den Bergwerken und Plantagen in Kimberley, in Witwatersrand, in Natal, im Matabeleland zwingt, dadurch, daß man ihnen alles Land und alles Vieh, d. h. die Existenzmittel nimmt, sie proletarisiert, sie auch mit Branntwein demoralisiert (später, als sie schon in der „Einfriedung" des Kapitals sind, werden ihnen, die an Alkohol erst gewöhnt worden, „geistige Getränke“ streng verboten: Das Ausbeutungsobjekt muß in brauchbarem Zustand erhalten werden.), schließlich einfach mit Gewalt, Gefängnis, Auspeitschung in das „Lohnsystem“ des Kapitals preßt. – Im Original mit **.