Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 247

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der Kapitalisten noch durch diejenige der Arbeiter realisiert werden könne, sondern die Konsumtion dritter Personen voraussetze“[1]. Demgegenüber sei aber festzustellen, daß es solche „dritten Personen“ in jeder kapitalistischen Gesellschaft wohl gebe. Die Vorstellung Woronzows und Nikolai-ons sei nichts als eine Fiktion, „die uns nicht um Haaresbreite vorwärtsbringen kann im Verständnis irgendeines historischen Prozesses“[2]. Es gibt keine kapitalistische Gesellschaft, und mag sie noch so hochentwickelt sein, die lediglich aus Unternehmern und Arbeitern bestände. „Selbst in England mit Wales entfallen von 1000 erwerbsfähigen Einwohnern 545 auf die Industrie, 172 auf den Handel, 140 auf die Landwirtschaft, 81 auf unbestimmte und wechselnde Lohnarbeit und 62 auf Staatsdienst, liberale Berufe usw.“ Also selbst in England gibt es massenhaft „dritte Personen“, und diese sind es eben, die den Mehrwert, sofern er von den Unternehmern nicht konsumiert wird, durch ihre Konsumtion realisieren helfen. Ob die Konsumtion der „dritten Personen“ zur Realisierung des ganzen Mehrwerts ausreicht, das läßt Struve offen, jedenfalls müßte „das Gegenteil erst noch bewiesen werden“[3]. Für Rußland als ein großes Land mit enormer Bevölkerung sei dies sicher nicht zu beweisen. Rußland sei gerade in der glücklichen Lage, auswärtige Märkte entbehren zu können, darin – hier macht Struve eine Anleihe aus dem Ideenschatz der Professoren Wagner, Schäffle und Schmoller – vom gleichen Schicksal begünstigt wie die Vereinigten Staaten von Amerika. „Wenn das Beispiel der nordamerikanischen Union etwas beweise, dann nur eins, nämlich die Tatsache, daß unter Umständen die kapitalistische Industrie eine sehr hohe Entwicklung erreichen kann, fast ausschließlich auf den inneren Markt gestützt.“[4] Dieser Satz wird illustriert an der Hand der

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[1] Kritische Bemerkungen, S. 251. – [Fußnote im Original]

[2] l. c., S. 255. – [Fußnote im Original]

[3] l. c., S. 252. – [Fußnote im Original]

[4] l. c., S. 260. „Entschieden unrecht hat er (Struve – R. L.), wo er den gegenwärtigen Zustand Rußlands mit dem der Vereinigten Staaten vergleicht, um das zu widerlegen, was er Ihre pessimistischen Zukunftsansichten nennt. Er sagt, die üblen Folgen des modernen Kapitalismus in Rußland werden ebenso leicht überwunden werden wie in den Vereinigten Staaten. Hier vergißt er ganz, daß die USA von allem Anfang an modern, bourgeois waren; daß sie von Kleinbürgern und Bauern gegründet wurden, die dem europäischen Feudalismus entflohen, um eine rein bürgerliche Gesellschaft zu errichten. Dagegen haben wir in Rußland ein Fundament von primitiv-kommunistischem Charakter, eine noch aus der Zeit vor der Zivilisation stammende Gentilgesellschaft, die zwar schon in Trümmer fällt, aber immer noch als Fundament, als Material dient, auf und mit dem die kapitalistische Revolution (denn es ist eine wirkliche soziale Revolution) wirkt und operiert. In Amerika gibt es seit mehr als einem Jahrhundert Geldwirtschaft, in Rußland war fast ausnahmslos Naturalwirtschaft die Regel. Deshalb ist es selbstverständlich, daß die Umwälzung in Rußland weit heftiger, weit einschneidender und von unermeßlich größere Leiden begleitet sein muß als in Amerika.“ (Brief Engels’ an Nikolai-on v. 17. Oktober 1893. In: Briefe usw., S. 85.) [Engels an Nikola Franzewitsch Danielson, 17. Oktober 1893. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 39, S. 148 f.] – [Fußnote im Original]