Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 245

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Man sieht, das Gemeinde-Eigentum in Rußland hat seine Blütezeit längst passiert und geht allem Anscheine nach seiner Auflösung entgegen.“[1] Damit hatte Engels bereits 18 Jahre vor Nikolai-ons Hauptschrift in der Frage der Obschtschina den Nagel auf den Kopf getroffen. Wenn Nikolai-on darauf nochmals frischen Mutes dasselbe Gespenst der Obschtschina heraufbeschwor, so war das insofern ein arger historischer Anachronismus, als ungefähr ein Jahrzehnt später bereits das offizielle Begräbnis der Obschtschina von Staats wegen erfolgte.[2] Die absolutistische Regierung, die ein halbes Jahrhundert lang mit aller Gewalt den Apparat der bäuerlichen Landgemeinde zu fiskalischen Zwecken künstlich zusammenzuhalten gesucht hatte, sah sich gezwungen, diese Sisyphusarbeit selbst aufzugeben. Bald zeigte es sich an der Agrarfrage als dem mächtigsten Faktor der russischen Revolution ganz offenkundig, wie sehr der alte Wahn der „Volkstümler“ bei dem tatsächlichen ökonomischen Gang der Dinge ins Hintertreffen geraten war und wie kräftig umgekehrt die kapitalistische Entwicklung in Rußland, die sie als eine totgeborene betrauerten und verwünschten, ihre Lebensfähigkeit und ihre fruchtbare Arbeit unter Blitz und Donner zu offenbaren verstand. Diese Wendung der Dinge sollte wieder und zum letztenmal in ganz verändertem historischem Milieu feststellen, daß eine soziale Kritik des Kapitalismus, die theoretisch von dem Zweifel an seiner Entwicklungsmöglichkeit ausgeht, mit fataler Logik auf eine reaktionäre Utopie hinausläuft – so gut 1819 in Frankreich wie 1842 in Deutschland und 1893 in Rußland.[3]

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[1] Friedrich Engels: Flüchtlingsliteratur. V. Soziales aus Rußland. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 18, S. 564.

[2] Am 9. November 1906 hatte der Zar den Erlaß über die Vervollständigung einiger geltender Gesetze, die bäuerlichen Besitzer und Nutznießer von Boden betreffend, unterzeichnet. Mit diesem Erlaß wurde ein neuer Kurs in der zaristischen Agrarpolitik eingeleitet, der auf die gewaltsame Zerstörung der Dorfgemeinschaft gerichtet war und die Entwicklung des Kapitalismus auf dem Lande weiter vorantrieb.

[3] Übrigens sind die überlebenden Wortführer des volkstümlerischen Pessimismus, namentlich Herr W. Woronzow, ihrer Auffassung bis zuletzt treu geblieben, trotz allem, was inzwischen in Rußland passiert ist – eine Tatsache, die ihrem Charakter mehr Ehre macht als ihrem Kopfe. Im Jahre 1902 schrieb Herr W. W. mit Hinweis auf die Krise der Jahre 1900–1902: „Die dogmatische Lehre des Neomarxismus verliert rasch ihre Macht über die Geister, und die Wurzellosigkeit der neuesten Erfolge des Individualismus ist offenbar selbst für seine offiziellen Apologeten klargeworden ... Im ersten Dezennium des 20. Jahrhunderts kehren wir somit zu derselben Auffassung der ökonomischen Entwicklung Rußlands zurück, die von der Generation der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ihren Nachfolgern vermacht worden war.“ (Siehe die Revue „Die Volkswirtschaft", Oktober 1902. Zit. bei: A. Finn-Jenotajewskij: Die gegenwärtige Wirtschaft Rußlands (1890 bis 1910). Petersburg 1911, S. 2.) Statt auf die „Wurzellosigkeit“ der eigenen Theorien, schließen die letzten Mohikaner der Volkstümelei also heute noch auf die „Wurzellosigkeit“ der ökonomischen Wirklichkeit – eine lebendige Widerlegung des Barèreschen Wortes: „il n’y a que les morts qui ne reviennent pas.“ – [Fußnote im Original]