Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 232

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tümlichkeiten“ der ökonomischen Struktur Rußlands und seines besonderen „Volksgeistes“ die Verkehrtheit und Verderblichkeit des Kapitalismus für Rußland ableitete, noch auf seiten der Marxisten, die in der kapitalistischen Entwicklung eine unvermeidliche historische Etappe erblickten, welche auch für die russische Gesellschaft den einzig gangbaren Weg des sozialen Fortschritts eröffnen könne. Woronzow seinerseits behauptete, der Kapitalismus sei in Rußland einfach unmöglich, er habe keine Wurzeln und keine Zukunft. Es sei gleichermaßen verkehrt, ihn zu verwünschen oder ihn herbeizuwünschen, denn es fehlen in Rußland die Lebensbedingungen selbst für eine kapitalistische Entwicklung, so daß alle die mit schweren Opfern verbundenen Anstrengungen, von Staats wegen den Kapitalismus in Rußland großzuziehen, verlorene Liebesmüh wären. Sieht man jedoch näher zu, dann schränkt Woronzow diese von ihm aufgestellte Behauptung sehr wesentlich wieder ein. Hat man nicht die Anhäufung des kapitalistischen Reichtums, sondern die kapitalistische Proletarisierung der kleinen Produzenten, die Unsicherheit der Existenz der Arbeiter, die periodischen Krisen im Auge, so stellt Woronzow alle diese Erscheinungen für Rußland durchaus nicht in Abrede. Im Gegenteil, er sagt ausdrücklich in der Vorrede zu seinen „Schicksalen des Kapitalismus in Rußland“: „Indem ich die Möglichkeit der Herrschaft des Kapitalismus in Rußland als einer Produktionsform bestreite, will ich nichts über seine Zukunft als Ausbeutungsform und -grad der Volkskräfte aussagen.“ Woronzow meint also, der Kapitalismus könne in Rußland bloß nicht jenen Reifegrad erlangen wie im Westen, hingegen der Prozeß der Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln sei in den russischen Verhältnissen wohl zu gewärtigen. Ja, Woronzow geht noch weiter. Er bestreitet gar nicht die Möglichkeit der Entwicklung kapitalistischer Produktionsformen in gewissen Zweigen der russischen Industrie, selbst der kapitalistischen Ausfuhr aus Rußland nach den auswärtigen Märkten. Sagt er doch in seinem Aufsatz „Der Überschuß bei der Versorgung des Marktes“: „Die kapitalistische Produktion entwickelt sich in einigen Zweigen der Industrie sehr rasch (versteht sich: im russischen Sinne des Wortes).“[1] „Es ist sehr wahrscheinlich, daß Rußland, wie andere Länder, gewisse natürliche Vorteile hat, infolge deren es als Lieferant gewisser Arten Waren auf auswärtigen Märkten auftreten kann; es ist sehr möglich, daß sich das Kapital dies zunutze machen und die entsprechenden Produktionszweige in seine Hände ergreifen wird ..., d. h., die nationale Arbeitsteilung wird es unserem Kapitalismus erleichtern, in ge-

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[1] Vaterländische Memoiren, 1883, V, Zeitgenössische Rundschau, S. 4. – [Fußnote im Original]