Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 205

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Markt der eine Faktor, die Produktivität, ewig steigt und der andere, die Kaufkraft, für den größten Teil der Nation sich ewig gleichbleibt, muß der Handel eine gleiche Unbegrenztheit des letzteren auf auswärtigen Märkten zu supplieren suchen. Was diesen Reiz stillt, verzögert wenigstens den neuen Ausbruch des Übels. Jeder neue auswärtige Markt gleicht daher einer Vertagung der sozialen Frage. In derselben Weise wirken Kolonisationen in unangebauten Ländern. Europa erzieht sich einen Markt, wo sonst keiner war. Aber dieses Mittel kajoliert doch im Grunde nur das Übel. Wenn die neuen Märkte ausgefüllt sind so ist die Frage nur wieder zu ihrem alten Ausgangspunkt zurückgekehrt, dem begrenzten Faktor der Kaufkraft gegenüber dem unbegrenzten Faktor der Produktivität, und der neue Ausbruch ward nur von dem kleineren Markte ferngehalten, um ihn auf dem größeren in noch weiteren Dimensionen und noch heftigeren Zufällen wieder auftreten zu lassen. Und da doch die Erde begrenzt ist und deshalb die Gewinnung neuer Märkte einmal aufhören muß, muß auch die bloße Vertagung der Frage einmal aufhören. Sie muß dereinst definitiv gelöst werden.“[1]

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[1] l. c., Bd. IV, S. 233. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, zu sehen, wie Rodbertus unbeschadet seiner ethischen Polterei über das Los der unglücklichen arbeitenden Klassen in der Praxis als ein äußerst nüchterner und realistisch denkender Prophet der kapitalistischen Kolonialpolitik im Sinne und Geiste der heutigen „Alldeutschen“ auftrat. „Von hier“, schreibt er in der Fußnote zum angeführten Passus, „mag man einen raschen Blick auf die Wichtigkeit der Erschließung Asiens, namentlich Chinas und Japans, dieser reichsten Märkte der Welt, sowie der Erhaltung Indiens unter englischer Herrschaft werfen. Die soziale Frage gewinnt dadurch Zeit (der donnernde Rächer der Ausgebeuteten verrät hier naiv den Nutznießern der Ausbeutung das Mittel, wie sie ihren „törichten und verbrecherischen Irrtum“, ihre „unmoralische“ Auffassung, ihre „schreiende Ungerechtigkeit“ möglichst lange konservieren können – R. L.), denn (diese philosophische Resignation ist unvergleichlich – R. L.) der Gegenwart gebricht es zu ihrer Lösung an Uneigennützigkeit und sittlichem Ernst ebensosehr als an Einsicht. Ein volkswirtschaftlicher Vorteil ist nun allerdings kein genügender Rechtstitel zu gewaltsamem Einschreiten. Allein andererseits ist auch die strikte Anwendung des modernen Natur- und Völkerrechts auf alle Nationen der Erde, sie mögen einer Kulturstufe angehören, welcher sie wollen, unhaltbar. (Wer denkt da nicht an die Worte Dorinens im Molièreschen „Tartuffe“: „Le ciel défend, de vraie, certains contentements, mais il y a avec lui des accomode-meats.“ – R. L.) Unser Völkerrecht ist ein Produkt der christlich-ethischen Kultur und kann, weil alles Recht auf Gegenseitigkeit beruht, deshalb auch nur ein Maß für die Beziehungen zu Nationen sein, die dieser selben Kultur angehören. Seine Anwendung über diese Grenze hinaus ist natur- und völkerrechtliche Sentimentalität, von der die indischen Greuel uns geheilt haben werden. Vielmehr sollte das christliche Europa etwas von dem Gefühl in sich aufnehmen, das die Griechen und Römer bewog, alle anderen Völker der Erde als Barbaren zu betrachten. Dann würde auch in den neueren europäischen Nationen wieder jener weltgeschichtliche Trieb wach werden, der die Alten drängte, ihre heimische Kultur über den Orbit terrarum zu verbreiten. Sie würden in gemeinsamer Aktion Asien der Geschichte zurückerobern. Und an diese Gemeinsamkeit würden sich die größten sozialen Fortschritte knüpfen, die feste Begründung des europäischen Friedens, die Reduktion der Armeen, eine Kolonisation Asiens im altrömischen Stil, mit anderen Worten, eine wahrhafte Solidarität der Interessen auf allen gesellschaftlichen Lebensgebieten.“ Der Prophet der Ausgebeuteten und Unterdrückten wird hier bei den Visionen der kapitalistischen Kolonialexpansion beinahe zum Dichter. Und dieser poetische Schwung will um so mehr gewürdigt werden, als die „christlich-ethische Kultur“ sich just damals mit solchen Ruhmestaten bedeckte wie den Opiumkriegen gegen China1 und den „Indischen Greuel“ – nämlich den Greuel der Engländer bei der blutigen Unterdrückung des Sepoyaufstandes2. In seinem „Zweiten socialen Brief“, im Jahre 1850, meinte Rodbertus zwar, wenn der Gesellschaft „die sittliche Kraft“ zur Lösung der sozialen Frage, d. h. zur Anderung der Verteilung des Reichtums fehlen sollte, würde die Geschichte „wieder die Peitsche der Revolution über sie schwingen müssen“. (l. c., Bd. II, S. 83.) Acht Jahre später zieht er als braver Preuße vor, die Peitsche der christlich-ethischen Kolonialpolitik über die Eingeborenen der Kolonialländer zu schwingen. Es ist auch nur folgerichtig, daß der „eigentliche Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus In Deutschland“ auch ein warmer Anhänger des Militarismus und seine Phrase von der „Reduktion der Armeen“ nur als eine Licentia poetica im Redeschwall zu nehmen war. In seinem „Zur Beleuchtung der Socialen Frage“, 2. Teil, 1. Heft, führt er aus, daß „die ganze nationale Steuerlast immerfort nach unten gravitiert, bald in Steigerung der Preise der Lohngüter, bald in dem Druck auf den Geldarbeitslohn“, wobei die allgemeine Militärpflicht, „unter den Gesichtspunkt einer Staatslast gebracht, bei den arbeitenden Klassen nicht einmal einer Steuer, sondern gleich einer mehrjährigen Konfiskation des ganzen Einkommens gleichkommt“. Dem fügt er schleunig hinzu: „Um keinem Mißverständnis ausgesetzt zu sein, bemerke ich, daß ich ein entschiedener Anhänger unserer heutigen Militärverfassung (also der preußischen Militärverfassung der Konterrevolution – R. L.) bin, so drückend sie auch für die arbeitenden Klassen sein mag und so hoch die finanziellen Opfer scheinbar sind, die den besitzenden Klassen dafür abverlangt werden.“ (I. c., Bd. III, S. 34.) Nein, Schnock ist entschieden kein Löwe!

1 Die Opiumkriege von 1839 bis 1842 und von 1856 bis 1860 waren Aggressionskriege des europäischen Kapitals gegen China. Ihr Ziel war die gewaltsame Öffnung des chinesischen Marktes für die profitbringende Opiumeinfuhr und den Warenimport der kapitalistischen Mächte. Den Ersten Opiumkrieg führte Großbritannien allein, im Zweiten Opiumkrieg operierten britische und französische Truppen gemeinsam gegen China. Im Ergebnis der Opiumkriege wurden China ungleiche Verträge aufgezwungen, die seine kapitalistische Erschließung und seine Umwandlung in ein halbkoloniales Land einleiteten.

2 Sepoy war die Bezeichnung für den eingeborenen Soldat der ehemaligen britischen Kolonialarmee in Indien. Am 11. Mai 1857 erhoben sich die Sepoyregimenter in Mirat auf Grund der Verletzung Ihres religiösen Gefühls durch die Briten. Diese Söldnerrevolte weitete sich zu einem Volksaufstand gegen das britische Kolonialregime aus. 1859 wurde der Aufstand von der Kolonialmacht endgültig niedergeschlagen.