Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 676

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tischen Despotendynastien dieselbe Mühe angelegen sein. Und trotz Kastenbildung, trotz despotischer Fremdherrschaft, die sich über dem Lande lagerte, trotz politischer Umwälzungen fristete in den Niederungen der indischen Gesellschaft das stille Dorf sein bescheidenes Dasein. Und im Innern jedes Dorfes herrschten die uralten traditionellen Satzungen der Markenverfassung, die unter der Decke der stürmischen politischen Geschichte ihre eigene stille und unmerkliche innere Geschichte durchmachten, alte Formen abstreiften, neue annahmen, Blüte, Verfall, Auflösung und Neubildung zeitigten. Kein Chronist hat diese Vorgänge aufgezeichnet, und während die Weltgeschichte den kühnen Zug Alexanders von Mazedonien nach den Quellen des Indus[1] beschreibt und von dem Waffenlärm des blutigen Timur Lenk und seiner Mongolen erfüllt ist,[2] schweigt sie gänzlich über die innere wirtschaftliche Geschichte des indischen Volkes. Nur aus Überbleibseln aller alten Schichtungen dieser Geschichte können wir ein mutmaßliches Entwicklungsschema der indischen Gemeinde rekonstruieren, und es ist das Verdienst Kowalewskis, diese wichtige wissenschaftliche Aufgabe gelöst zu haben. Nach Kowalewski lassen sich die verschiedenen noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Indien beobachteten Typen der ländlichen Gemeinde in die folgende historische Reihenfolge ordnen.

1. Als älteste Form ist die reine Geschlechtsgemeinde aufzufassen, die die Gesamtheit der Blutsverwandten eines Geschlechts (einer Sippe) umfaßt, den Grund und Boden gemeinsam besitzt und ihn auch gemeinsam bearbeitet. Auch die Feldmark ist hier demnach ungeteilte Mark, und der Verteilung unterliegen bloß die geernteten und in gemeinsamen Dorfspeichern aufbewahrten Früchte. Dieser primitivste Typus der Dorfgemeinde hat sich nur in wenigen Gegenden Nordindiens erhalten, ihre Einwohnerschaft jedoch war meistens nur noch auf einige Zweige („putti“) der alten Gens beschränkt. Kowalewski sieht darin, nach Analogie mit der bosnischen und herzegowinischen „Zadruga“[3], das Produkt der Auflösung der ursprünglichen Blutsverwandtschaft, die sich mit der Zeit infolge des Bevölkerungszuwachses in einige Großfamilien spaltet, die auch mit ihren Ländereien ausscheiden. Noch um die Mitte des vorigen Jahrhunderts gab es ansehnliche Dorfgemeinden dieses Typus, von denen einige zum Bei-

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[1] Alexander III„ mazedonischer König seit 336 v. u. Z„ führte von 327 bis 325 v. u. Z. den Feldzug nach Indien. Er eroberte von 334 bis 325 v. u. Z. Vorderasien bis zum Indus und Ägypten.

[2] Timur Lenk (1336–1405), mittelasiatischer Heerführer, war seit 1370 Herrscher in Samarkand und eroberte in vielen Feldzügen ganz Mittelasien und Persien. Bei dem Feldzug nach Indien 1398 zerstörten die Truppen Timurs Delhi und ermordeten die Bevölkerung der Hauptstadt.

[3] Siehe S. 325, Fußnote 2.