Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 25

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Schon ein oberflächlicher Blick zeigt, daß die kapitalistische Reproduktion als gesellschaftliches Ganzes nicht einfach als die mechanische Summe der einzelnen privatkapitalistischen Reproduktionen aufgefaßt werden darf. Wir haben z. B. gesehen, daß eine der Grundvoraussetzungen für die erweiterte Reproduktion des Einzelkapitalisten eine entsprechende Erweiterung seiner Absatzmöglichkeit auf dem Warenmarkt ist. Nun mag diese Erweiterung dem einzelnen Kapitalisten nicht durch absolute Ausdehnung der Absatzschranken im ganzen, sondern durch Konkurrenzkampf auf Kosten anderer Einzelkapitalisten gelingen, so daß dem einen zugute kommt, was ein anderer oder mehrere andere vom Markt verdrängte Kapitalisten als Verlust buchen. Dieser Vorgang wird dem einen Kapitalisten an erweiterter Reproduktion einbringen, was er anderen als Defizit in der Reproduktion aufzwingt. Der eine Kapitalist wird erweiterte Reproduktion, andere werden nicht einmal die einfache bewerkstelligen können, und die kapitalistische Gesellschaft im ganzen wird nur eine lokale Verschiebung, nicht aber eine quantitative Veränderung in der Reproduktion verzeichnen. Ebenso kann die erweiterte Reproduktion des einen Kapitalisten mit Produktionsmitteln und Arbeitskräften ins Werk gesetzt werden, die durch den Bankrott, also gänzliches oder teilweises Aufgeben der Reproduktion bei anderen Kapitalisten, freigesetzt worden sind.

Diese alltäglichen Vorgänge beweisen, daß die Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals etwas anderes ist als die ins unermeßliche gesteigerte Reproduktion des Einzelkapitalisten, daß sich die Reproduktionsvorgänge der einzelnen Kapitale vielmehr unaufhörlich kreuzen und in ihrer Wirkung jeden Moment gegenseitig in größerem oder geringerem Grade aufheben können. Bevor wir also den Mechanismus und die Gesetze der kapitalistischen Gesamtreproduktion untersuchen, ist es notwendig, die Frage zu stellen, was wir uns denn unter der Reproduktion des Gesamtkapitals vorstellen sollen und ob es überhaupt möglich ist, aus dem Wust der zahllosen Bewegungen der Einzelkapitale, die sich alle Augenblicke nach unkontrollierbaren und unberechenbaren Regeln verändern und teils parallel nebeneinander verlaufen, sich teils kreuzen und aufheben, so etwas wie eine Gesamtreproduktion zu konstruieren. Gibt es denn überhaupt ein Gesamtkapital der Gesellschaft, und was stellt dieser Begriff allenfalls in der realen Wirklichkeit dar? Das ist die erste Frage, die sich die wissenschaftliche Erforschung der Reproduktionsgesetze stellen muß. Der Vater der Physiokratenschule, Quesnay, der mit der klassischen Unerschrockenheit und Einfachheit in der ersten Morgenröte der

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