Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 5, 4. Auflage, Dietz Verlag Berlin 1990, S. 180

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übrig. Die Skepsis in bezug auf die Möglichkeit der vollen Entfaltung des Kapitalismus und somit der Produktivkräfte führte Sismondi zu dem Ruf nach der Dämpfung der Akkumulation, nach der Mäßigung des Sturmschritts in der Expansion der Kapitalsherrschaft. Und hier liegt die reaktionäre Seite seiner Kritik.[1]

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[1] Marx streift in seiner Geschichte der Opposition gegen die Ricardosche Schule und deren Auflösung Sismondi nur ganz kurz. Er sagt an einer Stelle: „Ich schließe Sismondi hier aus meiner historischen Übersicht aus, weil die Kritik seiner Ansichten in einen Teil gehört, den ich nur erst nach dieser Schrift behandeln kann, die reale Bewegung des Kapitals (Konkurrenz und Kredit).“ (Theorien über den Mehrwert, Bd. III, S. 52.) [Karl Marx: Theorien über den Mehrwert, Dritter Teil. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 26.3, S. 481 Etwas weiter widmet Marx jedoch, im Zusammenhang mit Malthus, auch Sismondi einen allerdings in seinen großen Zügen erschöpfenden Passus: „Sismondi hat das tiefe Gefühl, daß die kapitalistische Produktion sich widerspricht; daß ihre Formen – ihre Produktionsverhältnisse – einerseits zur ungezügelten Entwicklung der Produktivkraft und des Reichtums spornen; daß diese Verhältnisse andrerseits bedingte sind, deren Widersprüche von Gebrauchswert und Tauschwert, Ware und Geld, Kauf und Verkauf, Produktion und Konsumtion, Kapital und Lohnarbeit etc. um so größre Dimensionen annehmen, je weiter sich die Produktivkraft entwickelt. Er fühlt namentlich den Grundwiderspruch: Ungefesselte Entwicklung der Produktivkraft und Vermehrung des Reichtums, der zugleich aus Waren besteht, versilbert werden muß, einerseits; andrerseits als Grundlage Beschränkung der Masse der Produzenten auf die necessaries. Hence sind bei ihm die Krisen nicht wie bei Ric(ardo) Zufälle, sondern wesentliche Ausbrüche der immanenten Widersprüche auf großer Stufenleiter und zu bestimmten Perioden. Er schwankt nun beständig: Sollen die Produktivkräfte von Staats wegen gefesselt werden, um sie den Produktionsverhältnissen adäquat zu machen, oder die Produktionsverhältnisse, um sie den Produktivkräften adäquat zu machen? Er flüchtet sich dabei oft in die Vergangenheit; wird laudator temporis acti oder möchte auch durch andre Regelung der Revenue im Verhältnis zum Kapital oder der Distribution im Verhältnis zur Produktion die Widersprüche bändigen, nicht begreifend, daß die Distributionsverhältnisse nur die Produktionsverhältnisse sub alia specie sind. Er beurteilt die Widersprüche der bürgerlichen Produktion schlagend, aber er begreift sie nicht und begreift daher auch nicht den Prozeß ihrer Auflösung. (Wie sollte er das auch, wo diese Produktion erst in ihrer Bildung begriffen war? – R. L.) Was aber bei ihm zugrunde liegt, ist in der Tat die Ahnung, daß den im Schoß der kapitalistischen Gesellschaft entwickelten Produktivkräften, materiellen und sozialen Bedingungen der Schöpfung des Reichtums, neue Formen der Aneignung dieses Reichtums entsprechen müssen; daß die bürgerlichen Formen nur transitorische und widerspruchsvolle sind, in denen der Reichtum immer nur eine gegensätzliche Existenz erhält und überall zugleich als sein Gegenteil auftritt. Es ist Reichtum, der immer die Armut zur Voraussetzung hat und sich nur entwickelt, indem er sie entwickelt.“ (I. c., S. 55.) [Karl Marx: Theorien über den Mehrwert, Dritter Teil. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 26.3, S. 50 f.]

Im „Elend der Philosophie“ führt Marx Sismondi an einigen Stellen gegen Proudhon an, äußert sich aber über ihn selbst nur im folgenden kurzen Satz: „Diejenigen, welche, wie Sismondi, zur richtigen Proportionalität der Produktion zurückkehren und dabei die gegenwärtigen Grundlagen der Gesellschaft erhalten wollen, sind reaktionär, da sie, um konsequent zu sein, auch alle anderen Bedingungen der Industrie früherer Zeiten zurückzuführen bestrebt sein müssen.“ [Karl Marx: Das Elend der Philosophie. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 4, S. 97.] In „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ wird Sismondi zweimal kurz erwähnt; einmal wird er als der letzte Klassiker der bürgerlichen Ökonomie in Frankreich in Parallele mit Ricardo in England gestellt, an einer anderen Stelle wird hervorgehoben, daß Sismondi gegen Ricardo den spezifisch gesellschaftlichen Charakter der wertschaffenden Arbeit betonte. Im Kommunistischen Manifest endlich wird Sismondi als das Haupt des kleinbürgerlichen Sozialismus genannt. – [Fußnote im Original]