Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 99

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wir uns gar nicht aneignen. Woher kommt denn das Kapitaleinkommen? In Holland kostet die Kolonialpolitik dem Lande nichts und doch sind dort unsere Genossen dagegen und mit Recht. So wie Calwer hat auch der Freisinn[1] die Kolonialpolitik betrachtet. Er sah auch nur das schlechte Geschäft. Heute freilich, wo die Herrschaften im Tiegel der Weltpolitik mit den Agrariern zusammengeschmolzen sind, heute haben sie auch darin als bürgerliche Opposition aufgehört. Jetzt sind alle die Brocken des einstigen Liberalismus für Militarismus, Marinismus und Kolonialpolitik. Damit sind alle Brücken zwischen uns und der bürgerlichen Gesellschaft abgebrochen, und wenn der gute Jaurès uns den Rat gibt, es noch einmal mit den Liberalen zu versuchen, dann weiß er wirklich nicht, was er tut. Der Marxismus hat durch die letzten Wahlen seine glänzendste Rechtfertigung gefunden. Die wunderschöne Aushöhlungstheorie, wobei wir die immer dicker werdende Goldplombe im hohlen Zahn der bürgerlichen Welt werden sollten, ist ad absurdum geführt, und mit dem allmählichen Erobern der Gesellschaft durch parlamentarische Siege ist es nichts. Die Wahlen waren ein derber Schlag für diese Illusionen. Dieser Weg mußte ein unendlich langer werden; nicht so

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[1] Der Freisinn existierte zwischen 1893 und 1910 als Freisinnige Volkspartei und als Freisinnige Vereinigung. Die zwei Parteien des Freisinns waren infolge der Differenzen über die Stellung zur Militärvorlage von 1892/1893 aus der Spaltung der Deutschen Freisinnigen Partei hervorgegangen. Die Freisinnige Volkspartei war eine kleinbürgerlich-liberale Partei und die eigentliche Nachfolgerin der Deutschen Fortschrittspartei von 1861. Diese hatte sich in ihrem Gründungsdokument für größte Sparsamkeit für den Militarismus im Frieden, die Aufrechterhaltung der Landwehr, die allgemein einzuführende körperliche Ausbildung der Jugend und die erhöhte Aushebung der waffenfähigen Mannschaft bei zweijähriger Dienstzeit ausgesprochen. Die Freisinnige Volkspartei besaß 1907 28 Reichtagsmandate. Die Freisinnige Vereinigung war eine großbürgerlich-liberale Partei und versuchte den freihändlerisch orientierten Gruppierungen der Bourgeoisie einen maßgeblichen politischen Einfluß zu verschaffen. Das meinte sie durch Unterstützung der Aufrüstungs- und Expansionspolitik, eine liberal-sozialreformerische Innenpolitik und Zurückdrängung des Junkertums erreichen zu können. 1908 spaltete sich eine bürgerlich-demokratische Gruppe als Demokratische Vereinigung unter dem Vorsitz von Rudolf Breitscheid von der Freisinnigen Vereinigung ab. Am 6. März 1910 vereinigten sich die Freisinnige Volkspartei, die Freisinnige Vereinigung und die Süddeutsche Volkspartei zur Fortschrittlichen Volkspartei, einer liberalen Partei mit flexiblerer Strategie und Taktik imperialistischer Politik, die sich von besonders konservativ-militaristischen, reaktionären Kreisen abgrenzte und im Reichstagswahlkampf 1912 42 Mandate erzielte. Ende 1918 entstand aus dem Zusammenschluß mit dem linken Flügel der Nationalliberalen und bürgerlich-demokratischen Gruppen die Deutsche Demokratische Partei.