Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 572

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1909

Der 1. Mai und der Klassenkampf

[1]

Der 1. Mai, den wir in diesem Jahr zum 20. Mal begehen, findet inmitten eines scheinbaren Friedens statt.

Erneut hält die bürgerliche Welt die Grundfesten ihrer Herrschaft für absolut gesichert. Hat sie nicht erst gerade den Schwarm der Kriegsstürme durch diplomatische Wunder vertrieben?[2] Liegt die grandiose russische Revolution nicht am Boden, blutverschmiert, zerschlagen und unterdrückt unter dem Stiefel der jubelnden Bourgeoisie?[3] Der Krieg und die Revolution, diese Schatten des Schicksals, sind im Augenblick gebannt. Die bürgerliche Gesellschaft sieht sich wieder als Herrin ihres Schicksals und der Millionen von ihr unterdrückten Leiber. Die Sehnsüchte der Proletarier in den beiden Welten, das Ideal des Sozialismus, der intensive Traum einer von freien und gleichberechtigten Menschen geschaffenen Gesellschaft – wie fern scheint dies dem ehrlichen Bürgertum, das glaubt, die Zügel der Welt fest in der Hand zu halten!

Doch trübt ein Schatten dieses Bild. Dies ist der bedrohliche Schatten einer Wirtschaftskrise. Hunderttausende, man könnte sagen: Millionen von Arbeitern ohne Arbeit in Amerika und Europa fordern Brot, das die kapitalistische Gesellschaft ihnen nicht zu geben vermag. Diese Krise, die seit Jahren den Körper der Gesellschaft wie eine unsichtbare Krankheit zerfrißt, kann nicht durch irgendeine diplomatische List, nicht durch einen Handstreich überwunden werden. Sie folgt wie ein Schatten jeder Revo-

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[1] „Vom ‚Socialisme‘ wurde ich um einen Artikel zum 1. Mai gebeten“, schrieb Rosa Luxemburg an Leo Jogiches am 1. Mai 1909, „und ich schickte einen ziemlich langen (für uns völlig ungeeignet).“ Siehe GB, Bd. 3, S. 20. Alexandre-Marie Desrousseaux, genannt Bracke, bestätigt ihr am 2. Juni 1909 den rechtzeitigen Eingang ihres Artikels in Paris. Siehe SAPMO-BArch, NY 4002/60, Bl. 3.

[2] Im Oktober 1908 hatte z. B. Österreich-Ungarn die von ihm bisher verwalteten Gebiete Bosnien und Herzegowina annektiert und dadurch das ohnehin gespannte Verhältnis zu Serbien verschärft. Die deutsche Regierung hatte Österreich-Ungarn unterstützt und Rußland zur Anerkennung der Annexion gezwungen. Dieser Gewaltakt führte zur weiteren Isolierung Deutschlands und Österreich-Ungarns, da sich die Ententemächte enger zusammenschlossen. Italien, das sich in einem Geheimabkommen mit Rußland im Oktober 1908 verpflichtet hatte, für Neutralität und Erhaltung des Status quo auf dem Balkan einzutreten und dafür von Rußland freie Hand für die Eroberung von Tripolis und der Cyrenaica erhalten hatte, rückte vom Dreibund ab.

Am 28. Oktober 1908 war in der Londoner Zeitung Daily Telegraph ein Interview Wilhelms II. veröffentlicht worden. Der deutsche Kaiser hatte darin behauptet, daß sein Feldzugsplan den englischen Truppen zum Sieg über die Buren in Südafrika am 31. Mai 1902 verholfen hätte, und versucht, Frankreich und Rußland gegen England auszuspielen.

[3] Am (9.) 22. Januar 1905 waren in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift gezogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven attackiert, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus und war der Beginn der Revolution in Rußland 1905/1906. – Siehe auch Rosa Luxemburg: Ein amüsantes Mißverständnis. In: GW, Bd. 7/2, S. 689 f.; dies.: Die sozialdemokratische Fraktion in der vierten Duma. In: ebedna, S. 750 ff.