Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 573

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lution, jedem modernen Krieg und legt ihren schwarzen Schleier auch über die Feierlichkeiten dieses 1. Mai. Das ist der sichere Beweis, daß der von der bürgerlichen Gesellschaft angeblich errungene Sieg über den Krieg und die Revolution nur trügerischer Schein ist, daß die Sicherheit und Seelenruhe nur vorgetäuscht und aufgesetzt sind.

In der Nacht des Elends, das die Krisen des Kapitalismus entstehen läßt, erheben sich Gespenster, die das unerbittliche Schicksal, das sich schon in der Frühzeit der kapitalistischen Ära abzeichnete, ankündigen.[1]

Der Klassenkampf, der Auslöser der Krise, der die bürgerliche Gesellschaft zerreißt und der unweigerlich ihren Untergang bedeuten wird, hinterläßt seit einem Jahrhundert seine Blutspur. Der Klassenkampf war schon im Wirbelsturm der französischen Revolution vage zu spüren. Er gravierte sich in schwarzen Lettern auf dem Banner der aufständischen Seidenarbeiter von Lyon ein, jener aus Hunger Revoltierenden, die im Jahre 1834 schrien: „Arbeitend leben oder kämpfend sterben“.[2] Er gab dem roten Feuer der Fackeln, die die englischen Chartisten 1830 und 1840 anzündeten, neue Nahrung.[3] Er erhob sich wie eine Feuerwalze aus dem schrecklichen Massaker vom Juni 1848 in Paris.[4] Er warf seinen purpurroten Glanz auf Frankreichs Hauptstadt, auf die Bewegung von 1871, als sich die siegreiche bürgerliche Kanaille an den Helden der Kommune mit dem stählernen Feuer der Maschinengewehre rächte.[5]

Es ist eben jene Stimmung des Klassenkampfes – eines Kampfes, der erst mit dem kompletten Verfall der kapitalistischen Welt enden wird –, die die weltweite Feier des 1. Mai beherrscht.

Es ist die sanfte Jahreszeit des Frühlings, der pazifistischen Manifestationen, der friedlichen Versammlungen, der fröhlichen Ausflüge mit Frauen und Kindern. Welch ein Anblick tiefen Friedens! Welche Idylle! Verflogen ist der Terror der Bourgeoisie, die hinter verschlossenen Fensterläden vor der Manifestation des 1. Mai 1890 erzitterte![6] Der 1. Mai ist gekommen. Er ist vergangen. Und die Welt ist stehengeblieben.

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[1] Am 21. Januar 1908 hatten in Berlin und Magdeburg zahlreiche Arbeitslosenversammlungen und -demonstrationen stattgefunden. Es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei und zu Verhaftungen. In Berlin nahmen 12000 Menschen an neun Veranstaltungen teil.

[2] Die Seidenweber von Lyon hatten sich im April 1834 unter Führung französischer proletarischer Geheimorganisationen für die Beseitigung von Not und Elend und für die Errichtung einer sozialen Republik erhoben. Pariser Arbeiter waren ihrem Beispiel gefolgt. Nach heftigen Barrikadenkämpfen unterlagen die Aufständischen der militärischen Übermacht.

[3] Die Chartistenbewegung in England, eine Frühform der Arbeiterbewegung, basierte auf dem 1836 in London und 1837/38 in Birmingham zur Durchsetzung eines Verfassungsvorschlages (der 6-Punkte-Peoples-Charter) entstandenen ersten politischen Arbeiterorganisationen. Ihre heterogene Zusammensetzung aus kleinbürgerlichen Radikalen, Handwerkern und Industrieproletariern verhinderte einheitliche Kampfaktionen in ganz England und führte letztlich zu ihrem Niedergang nach 1848/49.

[4] Vom 23. bis 25. Juni 1848 hatten sich Pariser Proletarier erhoben, weil die französische Bourgeoisie die Nationalwerkstätten hatte schließen lassen. Etwa 113000 Arbeiter blieben dadurch ohne Arbeit und Einkommen. Bourgeoisie, Kleinbürger und Monarchisten standen geschlossen gegen den Aufstand, der nach drei Tagen von der militärischen Übermacht blutig niedergeschlagen wurde.

[5] Die Pariser „Blutwoche“ vom 21. bis 28. Mai 1871 führte zur konterrevolutionären Niederschlagung der Pariser Kommune, die als erster welthistorischer Versuch, eine Herrschaft der Arbeiterklasse zu errichten, am 18. März 1871 begonnen hatte. Beim brutalen Vorgehen der Regierungstruppen, verstärkt durch vorzeitig aus deutscher Kriegsgefangenschaft entlassene Truppen und begünstigt durch die im Raum Paris stationierten deutschen Armeekorps, wurden etwa 30000 Kommunarden getötet und etwa 85000 verhaftet, deportiert und zu Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen verurteilt.

[6] Der vom 14. bis 20. Juli 1889 in Paris tagende Internationale Arbeiterkongreß, der Gründungskongreß der II. Internationale, forderte die Abschaffung der stehenden Heere, die Einführung der allgemeinen Volksbewaffnung und erklärte „den Frieden als die erste und unerläßliche Bedingung jeder Arbeiter-Emanzipation“. Er verlangte eine internationale Arbeiterschutzgesetzgebung, besonders den Achtstundentag, das Verbot der Kinderarbeit und Maßnahmen zum Schutze der Jugendlichen und Frauen und forderte die Arbeiter zum Kampf um demokratische Rechte auf. Der Beschluß, am 1. Mai 1890 in allen Ländern Kundgebungen für den achtstündigen Arbeitstag und für die anderen Beschlüsse des Kongresses zu organisieren, wurde zur internationalen Geburtsstunde der Maifeier. In Deutschland legten rd. 200000 Arbeiter die Arbeit nieder.