Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 94

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Über den Ausgang und die Lehren der letzten Reichstagswahlen. Rede am 15. März 1907 im 1. Hamburger Wahlkreis

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Nach einem Zeitungsbericht

Rednerin hob zunächst hervor, daß das Resultat der Wahlen,[2] der Verlust unserer Mandate um fast die Hälfte, allgemein, Freund und Feind überrascht habe, und daß nun naturgemäß alle Welt versuche, die passendste Nutzanwendung zu ziehen. Soweit wir selbst dabei in Betracht kommen, ist die Diskussion im vollen Gange. Mit wenigen Ausnahmen hat diese sich leider aber immer noch sehr an der Oberfläche bewegt, während es überaus notwendig ist, eine Vertiefung unserer Anschauungen herbeizuführen. Und wenn uns unsere Diskussionen endlich eine größere Vertiefung bringen, dann können wir auch mit dieser Wahl zufrieden sein. Seit jeher hat die Sozialdemokratie aus allen wichtigen Begebenheiten gelernt, und die letzten Reichstagswahlen sind jedenfalls ein Ereignis, aus dem sehr viel zu lernen ist. In dem Eindruck, welchen die Wahlen bei uns hervorgerufen, haben wir besonders drei Phasen zu unterscheiden. Die erste war, am Abend und am Tage nach der Wahl, eine allgemeine Bestürzung und Depression. Vereinzelte Stimmen hatten auch gleich den Schuldfaktor in unserem Übermute entdeckt. Glücklicherweise war diese Stimmung nur kurz, und als dann die Ergebnisse der Stimmenzahlen von überall eintrafen, kamen manche wieder dazu, gar keine Niederlage anzuerkennen. Jetzt, in der dritten Phase, sind wir nun endlich soweit, gründlich über die Lehren der Wahl zu diskutieren. Da wird zunächst überall betont, daß wir unsere Kleinarbeit verdoppeln und verdreifachen müssen. Die gute Wirtschaftskonjunktur, der Druck, die Abhängigkeit der Arbeiter vornehmlich auf dem Lande, die Genugtuung des Kleinbauerntums über die gesteigerten Lebensmittelpreise, der Reichslügenverband[3] mit seiner von der Regierung gestützten verlogenen Agitation; alles das wird ins Feld geführt, um unsere Niederlage

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[1] Überschrift der Redaktion.

[2] Die Reichstagswahlen, die sog. Hottentottenwahlen, fanden am 25. Januar und am 5. Februar 1907 (Stichwahlen) statt. Sie waren unter Leitung des Reichskanzlers Bernhard von Bülow unter besonders heftigen Attacken gegen die Sozialdemokratie, andere oppositionelle Kräfte und mit chauvinistischen Hetzparolen gegen die in Südwestafrika unterdrückten Völker vor sich gegangen. Die deutsche Sozialdemokratie erzielte dennoch die größte Stimmenzahl. Doch obwohl sie 248258 Stimmen mehr als bei den Reichstagswahlen 1903 errang, erhielt sie auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903.

[3] Gemeint ist der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie, der am 9. Mai 1904 in Berlin gegründet worden war. Die Gründung war seit Herbst 1903 von einem Komitee vorbereitet worden, das in enger Fühlung mit Reichskanzler von Bülow stand. Ihm gehörten an: Vertreter der Schwerindustrie und der Großbanken, Vertreter bereits bestehender reaktionärer Propagandaorganisationen, höhere Beamte, Gutsbesitzer u. a. Vorsitzender war Generalleutnant a. D. von Liebert, ehemaliger Gouverneur der deutschen Kolonie Ostafrika, Mitglied der Leitung des Alldeutschen Verbandes. Der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie wurde vor allem von der rheinisch-westfälischen Großindustrie unterstützt und hatte 1906 144000 Mitglieder. Nach seinem ersten Aufruf erfolgte die Gründung, um in der Wahlagitation, durch Gründung vaterländischer Arbeitervereine und Propagandaschriften „der sozialdemokratischen Gefahr entgegenzutreten“, weshalb viele Arbeiter ihn treffend „Reichslügenverband“ nannten.