Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 77

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1907

Zu den Reichstagswahlen. Rede am 14. Januar 1907 in einer Volksversammlung in Magdeburg

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Nach einem Zeitungsbericht[2]

Werte Anwesende, Genossinnen und Genossen! Ich muß meine Ausführungen mit einem kleinen Bekenntnis beginnen. Ich habe erst hier erfahren, mit welchem „gefährlichen“ Gegner wir es hier in Magdeburg zu tun haben. Wir können wohl in dem Herrn Kobelt die Fleischwerdung der bürgerlichen Einigkeit betrachten. Wohl in keinem andern Orte Deutschlands ist die Klassenscheidung so schroff, als in Magdeburg. Das Zentrum steht ja allerdings noch abseits mit seinem Kandidaten Erzberger. Wenn der Herr Kobelt sich rühmen kann, daß er die Verkörperung der Einigung der bürgerlichen Klasse ist, so kann sich der Herr Erzberger desgleichen rühmen. Die beiden sind gleichwertig; wir können sie als eine Person betrachten. Welches ist nun das magische Wort, das die bürgerlichen Parteien, die sich jahrzehntelang feindlich gegenüberstanden, zusammengeschweißt hat? Das Wort heißt: Nationale Politik. Die Losung heißt: Hie sozialdemokratische, hie nationale Politik. Eigentlich ist das ja eine Beleidigung für uns, denn es bedeutet, daß wir Sozialdemokraten antinational seien, was doch gar nicht der Fall ist.

Womit hat uns nun die nationale Politik der bürgerlichen Parteien in Deutschland beschenkt? Die Zollpolitik, die ungeheure Verteuerung der Lebensmittel des Volkes ist ein erstes. Zwar leugnen das unsre Gegner, aber der abgefeimteste Verleumder der Sozialdemokratie kann den Rechts- und Verfassungsbruch in jener denkwürdigen Adventsnacht im Jahre 1902 durch den Reichstag nicht ableugnen. [3] Rednerin weist

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[1] Überschrift der Redaktion.

[2] In ihm heißt es: „Wohl dreitausend Personen füllten den Riesensaal, der schon anderthalb Stunden vor dem Versammlungsanfang polizeilich abgesperrt worden war. Gegen tausend Personen harrten in dem großen Garten [des Luisenparks] vergeblich auf Einlaß.“

[3] Zollgesetz und Zolltarif mit einer enormen Erhöhung der Agrar- und einiger Industriezölle waren am 14. Dezember 1902, der denkwürdigen Adventsnacht, im Deutschen Reichstag mit 202 gegen 100 Stimmen beschlossen worden und ab 1. März 1906 in Kraft getreten. Danach sollten die Großhandelspreise 1906 bis 1910 im Vergleich zu 1901 bis 1905 für Roggen um 21, Weizen 19, Hafer 18, Kartoffeln zwei, Ochsen 13, Schweine 14 und für Butter um 8 Prozent steigen. Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die drohende Verschlechterung der Lebenslage für die Mehrheit der Bevölkerung eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes bekannt geworden waren. Am 5. Dezember 1901 hatte die sozialdemokratische Fraktion dem Deutschen Reichstag eine Petition gegen die geplante Zollerhöhung mit rd. dreieinhalb Mill. Unterschriften übergeben. Paul Singer hatte am 11. Dezember 1901 die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegen die Vorlage des Bundesrates begründet und die mächtigsten Großagrarier als Urheber der Vorlage entlarvt. Die sozialdemokratische Fraktion hatte dann vom 16. Oktober bis 14. Dezember 1902 noch einmal mit allen parlamentarischen Mitteln gegen die Gesetzesvorlage gekämpft. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung ergriffen 30 sozialdemokratische Abgeordnete 250 Mal das Wort. In der 2. Lesung sprach August Bebel allein 24 Mal.