Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 82

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-1/seite/82

Zur Wahlbewegung in Oberschlesien

[1]

Wenn irgendwo im Deutschen Reiche, dann dürfte im fernab vom geistigen und politischen Leben gelegenen Oberschlesien der Kampf der Sozialdemokratischen Partei ein schwerer und was augenblickliche Erfolge angeht, auch unerfreulicher sein. Was anderswo die Agitationsarbeit im Winter mühsam macht: endlose schlechte Wege, zahllose weit verstreute Dörfer, das hat der Flugblätter verteilende Parteigenosse hier in besonders reichem Maße. Nirgends aber im Reiche finden sich so auf Rotwildjagd erpichte Gendarmen, Ortspolizisten, Amts- und Gemeindevorsteher wie im dicht an Rußland liegenden Oberschlesien, nirgends auch so noch ihrer Macht auf die Gemüter bewußte, rücksichtslos im Dienste einer politischen Partei arbeitende Geistliche wie der oberschlesische Zentrumsklerus, nirgends so brutale Soldknechte des Kapitalismus, wie es oberschlesische Werksbeamte sind. Um den Wählern die sozialdemokratischen Flugblätter und Stimmzettel sicher zukommen zu lassen, werden sie vielfach an die von und zur Schicht gehenden Berg- und Hüttenarbeiter verteilt. Eine Verteilung in den armseligen Hütten dieser Proletarier würde in sehr vielen Fällen dazu führen, daß Flugblätter und Stimmzettel längst, bevor der Mann heimkommt, von den durch den Klerus fanatisierten Weibern dem Ofen überantwortet sind. So stehen denn unsere Genossen an den Eingängen zu Gruben und Hütten und verteilen ihre Gaben an die Ab- und Zugehenden. Eine solche Arbeit dauert mindestens drei, vier Stunden und oft erheblich länger, denn Arbeitsbeginn und Ende derselben fällt hier nicht, wie in Werkstätten und Fabriken, auf eine ganz bestimmte Zeit, sondern erstreckt sich bei den Hunderten und Tausenden mit den verschiedensten Hantierungen betrauten Arbeitern auf viele Stunden. Was unter solchen Umständen die Arbeit des Flugblattverteilens im harten Winter bedeutet, davon können sich unsere, nur die Agitationsarbeit in der Großstadt kennenden Genossen gar nicht den rechten Begriff machen. Dabei müssen die Verbreiter immer darauf sehen, daß sie auf öffentlichen Wegen bleiben, denn wenn sie etwa der Grube oder der Hütte gehörende Wege und Flächen betreten, machen sie bald die Bekanntschaft roher Fäuste und derber Knüppel, geschwungen von den Herrn Steigern, Aufsehern und ähnlichen

Nächste Seite »



[1] Der Artikel erschien anonym, stammt aber sehr wahrscheinlich von Rosa Luxemburg. Siehe dazu Die Wahlen in Oberschlesien. In: GW, Bd 1, Erster Halbbd., S. 217 ff.; Resolution vom 8. März 1903 zu den Reichstagswahlen und Wahlkampfrede am 29. Mai 1903 in Kolmar in der Provinz Posen. In: GW, Bd. 6, S. 477 ff. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist der Artikel unter Nr. 413 ausgewiesen.