Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 90

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Zu den Reichstagswahlen. Rede am 18. Januar 1907 auf einer Volksversammlung in Kiel-Gaarden

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Nach einem Zeitungsbericht[2]

Noch kein Wahlkampf in Deutschland, ja man [kann] sagen in keinem einzigen Lande ist vom Standpunkte der sozialen und geschichtlichen Entwicklung mit so hohem Interesse verfolgt worden, wie der gegenwärtige. Es ist das erste Mal, daß der Sozialdemokratie das deutsche Bürgertum wie eine geschlossene Mauer gegenübersteht. Ein und derselbe Kandidat vertritt die verschiedenen Schattierungen der deutschen Bourgeoisie. Das Wort unseres großen Vorkämpfers von der einen reaktionären Masse[3] der Besitzenden in ihrer Kampfstellung gegen das revolutionäre Proletariat wird hierdurch drastisch illustriert. Im hiesigen Wahlkreise ist’s ein Freisinniger und in einem anderen Wahlkreise ist’s ein Nationalliberaler, der uns als Kandidat für alle Bürgerlichen gegenübersteht. Die Namen der Parteien sind bloß ein Schall.

Charakteristisch für diese Politik ist eine Äußerung des nationalliberalen Führers Bassermann. Als er einen seiner Kollegen zur Rede stellte, weil er sich vor einer Abstimmung entfernte, erhielt er die Antwort: Sehen Sie, wenn ich eine wichtige Abstimmung wittere, wo ich mir sagen muß, ein Teil meiner Wähler ist dafür und der andere dagegen, in solchen Fällen fahre ich nach Hause und lege mich zu Bett. (Hei-

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[1] Überschrift der Redaktion.

[2] In ihm heißt es: „Die Ankündigung, daß Genossin Luxemburg am Freitagabend im ‚Kaisersaal‘ in Gaarden sprechen würde, hatte in der arbeitenden Bevölkerung unserer Stadt und der Umgegend geradezu Sensation gemacht. Schon am Tage nach der ersten Bekanntmachung waren in den meisten Verkaufsstellen die vorhandenen Eintrittskarten vergriffen. Es war denn auch eine förmliche Völkerwanderung, die sich gestern Abend aus allen Richtungen nach dem bekannten Versammlungslokal im Gaardener Stadtteil in Bewegung setzte. Lange vor der Eröffnung der Versammlung war der große Saal des Etablissements im wörtlichsten Sinne überfüllt von einer Menge, die, nach Entfernung der Tische und Stühle, Kopf an Kopf in geradezu beängstigender Zusammenpressung auf das Erscheinen der Rednerin mit Spannung, aber in musterhafter Ruhe und Ordnung wartete. Schon vor ½ 8 Uhr mußte das Lokal polizeilich abgesperrt werden.“

[3] Das Lassallesche Schlagwort von der „einen reaktionären Masse“ ist dem Wortlaut nach in den Auseinandersetzungen des ADAV mit der Deutschen Fortschrittspartei seit dem Sommer 1865 entstanden und wohl von Johann Baptist Schweitzer geprägt worden. Siehe Engels an Marx, Oktober 1868. In: MEW, Bd. 32, S. 187. Einen dem Wortlaut des Schlagworts sehr nahekommenden Beleg enthält Lassalles Rede vor Berliner Arbeitern vom 22. November 1862, die der Social-Demokrat (Berlin) am 31. August 1865 unter der Überschrift Lassalle über die gegen ihn und die Social-Democratie erhobenen Vorwürfe veröffentlichte. Dort heißt es: „Vor mir also verschwinden die Unterschiede und Gegensätze, welche sonst die reaktionäre Partei und die Fortschrittspartei trennen. Vor mir sinken sie trotz dieser inneren Unterschiede zu Einer gemeinsamen reaktionären Partei zusammen.“ Nach MEGA, Erste Abt. Werke/ Artikel/Entwürfe, Mai 1875 bis Mai 1883, Apparat, Bd. 25, Berlin 1985, S. 548 f.