Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 91

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terkeit.) Danach könnte der Kandidat des hiesigen Kreises, falls er, was natürlich ganz ausgeschlossen, gewählt werden würde, da er von sämtlichen Cliquen aufgestellt worden, eigentlich nie aus dem Bette herauskommen. (Große Heiterkeit.)

Rednerin geht sodann in längeren Ausführungen auf die Kolonialpolitik, ihre Entstehung und ihr Wesen, ein. Sie geißelt in schneidender Ironie die ökonomische Phantastik dieser Politik, wie sie in der Handelsbilanz der Kolonien und in Dernburgs Bilanzen zu Tage tritt und charakterisiert die christliche und kulturelle Seite unserer Kriegsführung in Südwestafrika[1] durch Briefe von Kolonialkriegern, die in der bürgerlichen Presse veröffentlicht worden sind. Sie fährt fort: Diese Kolonialpolitik, eine solche Spottgeburt war notwendig, um die deutsche Demokratie ins Grab zu tragen. Das ist nicht etwa eine Redeblüte, nein, die letzten zehn Jahre zeigen, daß der Liberalismus nicht nur gestorben und begraben, daß er vielmehr schon vermodert ist. Sie belegt das durch einen summarischen parteigeschichtlichen Überblick über den Niedergang des Liberalismus in Deutschland. Was aber folgt, wenn die bürgerliche Opposition verschwunden? Die bürgerliche Reaktion und das revolutionäre Proletariat stehen sich dann allein und geschlossen gegenüber!

In derselben Gegenüberstellung gipfelt übrigens auch die wirtschaftliche Entwicklung, einerlei was auch in unseren Reihen seinerzeit die Revisionisten aus ihren Kollegienheften oder der deutschen Gewerbestatistik herausgelesen haben. Was mögen aber diese Genossen gegenüber diesem Wahlkampf für Gesichter machen! (Heiterkeit.) Wird nicht durch diese neueste politische Pointierung – und die Politik hinkt dazu noch immer den realen Tatsachen nach – aufs glänzendste die wirtschaftliche Theorie Marx’ vom unversöhnlichen Klassenkampf bestätigt? Diese politische Entwicklung zeigt unverkennbar das völlige Aussterben jener Mittelschichten, deren historische Aufgabe es einst gewesen, die Kluft zwischen Proletariat und besitzender Klasse auszufüllen. So ist Deutschland, im Bilde des heutigen Wahlkampfs gesehen, dasjenige westeuropäische Land, das für eine politische Katastrophe am reifsten ist. (Lebhafte Zustimmung.)

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[1] Der Aufstand der Hereros gegen die deutsche Kolonialherrschaft in Südwestafrika dauerte von Anfang Januar 1904 bis 1907, dem sich im Oktober 1904 die Nama angeschlossen hatten. Unter Leitung des Reichskanzlers Bernhard von Bülow war der Reichstagswahlkampf 1906/1907 durch skrupellosen Chauvinismus für die Weiterführung des Kolonialkrieges gegen die Hereros und Nama gekennzeichnet. Im Unterdrückungsfeldzug hatten die deutschen Kolonialtruppen die Eingeborenen in die Wüste getrieben und von den Wasservorkommen abgeschnitten. Generalleutnant Lothar von Trotha hatte Befehl gegeben, keine Gefangenen zu machen und auf Frauen und Kinder zu schießen, so daß die Hereros und Nama einem grausamen Tod oder unerträglichem Elend ausgeliefert waren. Rosa Luxemburg prangerte im Entsetzen über den Ersten Weltkrieg das mörderische Verbrechen der „Kulturwelt“ erneut an, „welche gelassen zugesehen hatte, als derselbe Imperialismus Zehntausende Hereros dem grausigen Untergang weihte und die Kalahariwüste mit dem Wahnsinnsschrei Verdurstender, mit dem Röcheln Sterbender füllte […] diese[r] ‚Kulturwelt‘ ist erst heute gewahr geworden, daß der Biß der imperialistischen Bestien todbringend, daß ihr Odem Ruchlosigkeit ist.“ In: GW, Bd. 4, S. 161.