Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 92

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Es kommt hinzu, daß diese Wahl in Deutschland die erste nach Ausbruch der russischen Revolution darstellt.[1] Die Allianz zwischen dem offiziellen Rußland und dem offiziellen Deutschland ist ja eine alte historische Tradition. Noch kurz vor Ausbruch der Revolution hat das offizielle Preußentum sich beeilt, im Königsberger Prozeß[2] die Stiefel des Kosakentums zu lecken. Und auch darin zeigt sich der historische Parallelismus der russischen und deutschen Entwicklung, daß der russische Liberalismus ganz so gebrochen zu Boden liegt, wie heute in Deutschland unser Liberalismus. Daß so die bürgerliche Freiheit errungen werden muß durch das revolutionäre Proletariat, macht das Tempo der russischen Bewegung für unser Wünschen und Hoffen so entsetzlich langsam. Aber aus der russischen Arbeiterrevolution erhält das deutsche Proletariat einen unerschöpflichen Zufluß von neuem Mut, neuer revolutionärer Tatkraft. (Vielfaches Bravo!)

Während so der Parlamentarismus in Deutschland in immer rätselhafterer Zukunft erscheint, bleibt andererseits bei dem Nachbarstaat im Osten das revolutionäre Feuer in fortwährender Glut. Das ist die Signatur dieser Reichstagswahl im Lichte der russischen Revolution. Nicht die Bomben sind die russische Revolution und nicht diese Wirkung erwarten wir von der russischen Bewegung hier im Westen für unsere Sache, wohl aber müssen auch wir darauf gefaßt sein, daß man unserer Bewegung den gesetzlichen Boden entzieht. Aber das kann festgestellt werden, daß wir auch dieser Entwicklungsphase mit unerschütterlicher Kampfesfreude entgegensehen. (Lebh[after] Beifall.) Dafür garantiert die Vergangenheit unsrer Bewegung. Wenn wir so vorzüglich die parlamentarische Waffe zu gebrauchen verstanden haben, so wird das deutsche Proletariat ebenso auf der Höhe stehen, wenn es gilt, andere Waffen anzuwenden. (Vielstimmiges Bravo.) Nicht wir machen die Revolution – eine Revolution wird nicht gemacht –, aber wenn sie kommt, akzeptieren wir sie, und wir sind bewußt, daß es gilt, unerschrocken und kaltblütig der Zukunft ins Auge zu schauen.

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[1] Am (9.) 22. Januar 1905 waren in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift gezogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven attackiert, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus und war der Beginn der Revolution in Rußland 1905/1906.

[2] Vom 12. bis 25. Juli 1904 hatte in Königsberg ein Prozeß gegen neun deutsche Sozialdemokraten stattgefunden, die wegen des Transportes illegaler, gegen den Zarismus gerichteter Schriften nach Rußland angeklagt worden waren. Karl Liebknecht als einer der Verteidiger entlarvte vor allem die Zusammenarbeit der preußischen und russischen Geheimpolizei. Zusammen mit Hugo Haase, Ernst Fleischmann und weiteren Rechtsanwälten erreichte er, daß das Gericht am 25. Juli 1904 die neun Angeklagten von der Anklage des Hochverrats und der Zarenbeleidigung freisprechen mußte. Drei Angeklagte wurden wegen „Geheimbündelei“ verurteilt.