Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 565

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1908

Vom Marxismus

Allgemein wird der wissenschaftliche Wert der meisten großen Denker erst nach ihrem Tod voll anerkannt. Die Zeit verleiht ihm seine ganze Tragweite.

Aber es gibt noch einen besonderen Grund, weshalb die marxistische Theorie weiter in die tieferen Schichten der Gesellschaft eindringt und neue Anhänger gewinnt, je mehr sich der Tag entfernt, an dem wir ihren Autor verloren haben.

Tatsächlich ist die marxistische Theorie die wissenschaftliche Widerspiegelung des Klassenkampfes, der durch den Kapitalismus mit der Unvermeidlichkeit eines Naturgesetzes verursacht wird.

Die beständige Ausweitung und die wachsende Stärke dieser Theorie sind die Folgen des von Marx entdeckten Gesetzes der kapitalistischen Entwicklung: Jedes Land, in das der Kapitalismus vordringt und in dem sich der Klassenkampf abzeichnet, ist ein neues Feld, das für den marxistischen Einfluß offen ist.

Deshalb verkündet heute, ein Vierteljahrhundert nach Marx’ Tod,[1] der Donner der russischen Revolution,[2] daß aufgrund des Kapitalismus ein neues und umfassendes Territorium vom marxistischen Denken soeben erobert worden ist.

Rosa Luxemburg

Le Socialisme (Paris),

Nr. 18 vom 15. März 1908.

Übersetzung aus dem Französischen von François Melis.

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[1] Le Socialisme, Nr. 18 vom 15. März 1908 war dem 25. Todestag von Karl Marx gewidmet, der am 14. März 1883 in London gestorben war. Im Supplément du Journal-Revue erschienen auf S. 6–8 neben Rosa Luxemburgs Äußerung Beiträge von Henriette Roland Holst, L. O. Martow, Th. Rothstein, Clara Zetkin, Ch. Rappoport, Ch. Bonnier, Compère-Morel, Karl Kautsky, Georgi Plechanow und H. M. Hyndman.

[2] Am (9.) 22. Januar 1905 waren in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift gezogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven attackiert, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus und war der Beginn der Revolution in Rußland 1905/1906.