Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 78

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an der Hand von Zahlen über die Steigerung der Zölle die ungeheure Verteuerung der Lebensmittel nach. Deutschland hat unter allen Ländern der Welt die höchsten Brotpreise. In gleicher Weise beleuchtet Genossin Luxemburg die Erhöhung der Zölle für Vieh und die übrigen künstlichen Mittel zur Erhöhung der Fleischpreise, die Grenzsperren, die angeblich zum Schutz der Volksgesundheit eingeführt sind. Man verhindert nicht nur die Einfuhr von Fleisch, sondern man zwingt auch noch den Arbeiter, sich im Inlande von Fleisch zu nähren, das für Hunde bald zu schlecht ist.

Unser Gegner, der Herr Kobelt, ist ja u. a. auch Vertreter der Mittelstandsvereinigung.[1] Er will nicht nur reich und arm schützen, sondern auch den Mittelstand, d. h. er will Berg und Tal vereinigen. Die Sozialdemokratie ist keine Gegnerin des Mittelstandes, und die proletarische Bevölkerung ist nicht schuld an dem wirtschaftlichen Niedergang des Mittelstandes.

Rednerin legt die Stellung der Sozialdemokratie zum Mittelstand näher dar.

Durch ihre Gesetzgebung stoßen die bürgerlichen Parteien das deutsche Volk bewußt in den Abgrund der Immoral herab, wofür wir Aussprüche bürgerlicher Professoren anführen können. Die Sozialdemokratie hingegen führt das arbeitende Volk durch ihre aufklärende Arbeit zur Höhe der Moral.

Aber auf dem Gebiete der blinkenden Säbel, des Heeres und der Marine haben die nationalen Parteien andre Erfolge aufzuweisen. Rednerin führt auch hier Zahlen an, um den ganzen Wahnwitz dieser Politik zu beleuchten. Wenn das so weitergeht, dann dürfte bald jeder dritte Deutsche im Rock des Königs herummarschieren, während die andern beiden ohne Rock und Hose herumlaufen. (Große Heiterk[eit].) Die nationale Politik hat wirklich allen Grund, stolz auf Deutschland als Kulturland zu sein! Friedensversicherungen über Friedensversicherungen hört man alle Augenblicke, und trotzdem will man uns glauben machen, daß wir uns rüsten müssen, weil wir jeden Tag überfallen werden können. Wir Sozialdemokraten wollen nun nicht etwa unser deutsches Vaterland wehrlos machen. Im Gegenteil! Wir wollen das ganze Volk bewaffnen. Wir wollen, daß jeder seine Waffe im Hause habe, um sie gegen alle Feinde gebrauchen zu können. Die Miliz[2] ist die beste Volksbewaffnung, aber sie ist nicht dazu da, um eine Politik zu stützen, wie es beispielsweise die Kolonialpolitik ist.

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[1] Die Deutsche Mittelstandsvereinigung bestand von 1904 bis 1912. Ihr gehörten 1907 etwa 3000 Mitglieder an. Sie verstand sich als gegen die Sozialdemokratie gerichtete Dachorganisation sog. mittelständischer Vereine und Organisationen und umfaßte unterschiedliche politische Strömungen in den städtischen Mittelschichten. Anfänglich in Anlehnung an den Bund der Landwirte konservativ und antisemitisch orientiert, wurde sie letztlich zwischen dem Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie und dem Reichsdeutschen Mittelstandsverband zerrieben.

[2] Die Miliz-Forderung lautete nach dem Erfurter Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands von 1891: „Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege.“ Siehe Parteitagsprotokoll Stuttgart 1907, S. 4.