Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 574

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Und der Bourgeois ist am folgenden Tag mit einem Seufzer der Erleichterung aufgewacht, mit dem zufriedenen Lächeln von Menschen, die einer Naturkatastrophe entkommen sind. Die bürgerliche Furcht hat sich in Arroganz, in Rachsucht verwandelt, so wie immer. Um sich beim Proletariat für die Ordnung und den Frieden am Maifeiertag zu bedanken, läßt sie die Peitsche des Hungers und der Unterdrückung auf seinen gekrümmten Leib schlagen!

Ein friedlicher 1. Mai! Aber ist er denn etwas anderes als ein jährliches memento mori, das, „Bruder, du mußt sterben!“, das die Arbeiterklasse beider Welten in den Ohren der Bourgeoisie ertönen läßt? Sanfter 1. Mai! Aber ist er denn etwas anderes als die Parade der sterblichen Feinde und der Totengräber des kapitalistischen Systems? Ist der idyllische 1. Mai – diese Sklavenidylle! – denn etwas anderes als die jährliche Aufforderung an die zahlreichen und immer weiter wachsenden Armeen, die Waffen ruhen zu lassen, mit trockenem Pulver und um das Banner der Revolution geschart? Nicht mehr als eine friedliche Zerstreuung der Ausgebeuteten, der Überarbeiteten! Aber ist diese Zerstreuung denn etwas anderes als der immer wiederholte Schwur von Millionen Kämpfern, den Kampf nicht einzustellen, solange auch nur ein Stein der Festung der Ausbeutung und der Sklaverei stehengeblieben ist? Achtstundentag – Weltfrieden – Brüderlichkeit der Nationen! Das sind die drei Waffen, mit denen das Todesurteil gegen eine Gesellschaft vollstreckt wird, die sich auf die unbegrenzte Ausbeutung, auf den Raub von Territorien und auf den Haß der Nationen stützt.

Das Ziel des 1. Mai ist eine dröhnende und gnadenlose Kriegserklärung an die Gesellschaft, ausgesprochen von Millionen Mündern und auf dem gesamten Erdball widerhallend.

In dieser internationalen Einigkeit, die unserer Bewegung eigen ist, liegt die Garantie, daß unsere Truppen nicht wieder in einem ebenso heroischen wie ungleichen Kampf niedergeschlagen werden, isoliert wie jene im Juni[1] und diejenigen der Kommune, wie die glorreichen Kämpfer aus Sankt-Petersburg. [2]

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[1] Vom 23. bis 25. Juni 1848 hatten sich Pariser Proletarier erhoben, weil die französische Bourgeoisie die Nationalwerkstätten hatte schließen lassen. Etwa 113000 Arbeiter blieben dadurch ohne Arbeit und Einkommen. Bourgeoisie, Kleinbürger und Monarchisten standen geschlossen gegen den Aufstand, der nach drei Tagen von der militärischen Übermacht blutig niedergeschlagen wurde.

[2] Am (9.) 22. Januar 1905 waren in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift gezogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven attackiert, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus und war der Beginn der Revolution in Rußland 1905/1906.