Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 98

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und ausdauernd tritt das Proletariat Rußlands als selbständige Klassenpartei, als ein Riesenheer an die Seite der internationalen Bruderparteien. Und dann hat man dort den Massenstreik zur Anwendung gebracht, die Kraftäußerung, welche das kapitalistische Unternehmertum bis in die innerste Seele erschreckt. Hatten also die deutschen Philister nicht Grund genug, Angst zu haben? Die Feuerfunken der russischen Revolution sollten also für die Strohdächer unserer bürgerlichen Gesellschaft nicht bedenklich sein? Also, der 25. Januar[1] war in Deutschland nicht bloß eine parlamentarische Schlacht, sondern eine große Auseinandersetzung zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Es war eine parlamentarische Junischlacht.[2] Als Symptom ist bezeichnend, daß der Verband der russischen Leute[3] von Moskau dem deutschen Kaiser telegraphisch gratulierte. Von unserer Seite sind diese Einflüsse nicht genügend gewürdigt worden. Der Wahlaufruf der Fraktion erwähnte kein Wort von Rußland. Warum drückte man aber dem Kampfe nicht schon von vornherein den großen internationalen Zug auf? So, wie es gegangen, kamen wir mehr in Verteidigungs- als in Angriffsstellung. Wir müssen endlich einmal lernen, das Wort Lassalles von der einen reaktionären Masse[4] zu begreifen. Denn wenn man auch die Unterschiede in den Interessengegensätzen der herrschenden Klasse nicht unterschätzen darf, uns gegenüber steht die bürgerliche Welt geschlossen [da], mögen David, Bernstein, Calwer und andere noch so sehr mit der Statistik arbeiten. In Deutschland ist der sogenannte Mittelstand, das Kleinbürgertum, tatsächlich nur noch Kostgänger des Großkapitals. Darum auch ist der Liberalismus tot. Am 25. Januar hat sich gezeigt, daß der Liberalismus zu den Hunden geflohen ist. Eine politische Vertretung im Sinne des Liberalismus existiert in Deutschland nicht mehr für den Mittelstand. Das, was sich noch so nennt, ist nichts anderes als eine Abart der Reaktion. Nur in der Jämmerlichkeit und Lakeienhaftigkeit ist er noch schlimmer als diese. Und dabei träumen diese Toren in ihrer kindischen Greisenhaftigkeit von ihrer Neubelebung als Partei. Sie sind und bleiben für den Rest ihres Daseins Kammerdiener des Großkapitals. Als Bebel im Reichstage den Genossen Calwer glaubte decken zu müssen, beging er einen großen Fehler.[5] Den Standpunkt: Wir würden der Kolonialpolitik nicht so feindselig gegenüberstehen, wenn die Kosten aus dem Kapitaleinkommen gedeckt würden, können

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[1] Für den 25. Januar 1907 hatte die Regierung unter Reichskanzler Bernhard von Bülow die Neuwahlen zum Deutschen Reichstag festgelegt.

[2] Vom 23. bis 25. Juni 1848 hatten sich Pariser Proletarier erhoben, weil die französische Bourgeoisie die Nationalwerkstätten hatte schließen lassen. Etwa 113000 Arbeiter blieben dadurch ohne Arbeit und Einkommen. Bourgeoisie, Kleinbürger und Monarchisten standen geschlossen gegen den Aufstand, der nach drei Tagen von der militärischen Übermacht blutig niedergeschlagen wurde.

[3] Der Verband des russischen Volkes war eine 1905 zum Kampf gegen die Revolution gegründete monarchistische Organisation, der vorwiegend Gutsbesitzer, Kaufleute, Polizeibeamte und Priester angehörten, die als „echt russische Leute“ bezeichnet wurden.

[4] Das Lassallesche Schlagwort von der „einen reaktionären Masse“ ist dem Wortlaut nach in den Auseinandersetzungen des ADAV mit der Deutschen Fortschrittspartei seit dem Sommer 1865 entstanden und wohl von Johann Baptist Schweitzer geprägt worden. Siehe Engels an Marx, Oktober 1868. In: MEW, Bd. 32, S. 187. Einen dem Wortlaut des Schlagworts sehr nahekommenden Beleg enthält Lassalles Rede vor Berliner Arbeitern vom 22. November 1862, die der Social-Demokrat (Berlin) am 31. August 1865 unter der Überschrift Lassalle über die gegen ihn und die Social-Democratie erhobenen Vorwürfe veröffentlichte. Dort heißt es: „Vor mir also verschwinden die Unterschiede und Gegensätze, welche sonst die reaktionäre Partei und die Fortschrittspartei trennen. Vor mir sinken sie trotz dieser inneren Unterschiede zu Einer gemeinsamen reaktionären Partei zusammen.“ Nach MEGA, Erste Abt. Werke/ Artikel/Entwürfe, Mai 1875 bis Mai 1883, Apparat, Bd. 25, Berlin 1985, S. 548 f.

[5] Gemeint ist August Bebels Rede am 26. Februar 1907 im Deutschen Reichstag zum Haushaltsetat für 1907. In ihr äußerte er sich ausführlich zu Richard Calwers Ausführungen über Kolonialpolitik und Sozialdemokratie. Siehe Der 25. Januar. In: Sozialistische Monatshefte, 2. Heft, Februar 1907, wo es auf S. 104 f. hieß: „Daß die Sozialdemokratie guten Grund hat, sich allen Forderungen der Regierung zu Kolonialzwecken gegenüber oppositionell zu verhalten, das ergibt sich einmal schon aus unserer heutigen Stellung zur Regierung, sodann aber aus der gänzlich einflußlosen Rolle, die der Arbeiter im Produktionsprozeß spielt. Aber trotz stramm ablehnender Haltung darf auch der deutsche Sozialist nicht verkennen, daß unser Kapitalismus und unser Unternehmertum kolonisieren müssen, soll Deutschlands wirtschaftliche Zukunft dem konkurrierenden Auslande gegenüber sichergestellt werden. […] Soll und muß denn nicht erst der Kapitalismus die Welt in seine Fesseln zwingen, bevor eine sozialistische Organisation der Wirtschaft funktionieren kann? Wenn diese Frage mit Ja beantwortet wird, dann muß das Kapital, auch das deutsche, hinaus und die Welt sich mit den Mitteln und Waffen untertan machen, die ihm zur Verfügung stehen. Zur Kritik der kapitalistischen Kolonialpolitik bleibt dabei noch ein weiter Spielraum übrig.“ Bebel verteidigte Calwer, um sich dem Versuch des Nationalliberalen Bassermann entgegenzustellen, Calwer gegen die Sozialdemokratische Partei auszuspielen. Bebel belegte mit Zitaten den prinzipiell sozialdemokratischen Standpunkt zur Kolonialpolitik, der es Calwer unmöglich mache, wie er selbst geschrieben hat, für kolonialpolitische Forderungen zu stimmen. Diese Äußerung enthielt Calwers Wirtschaftliche Rundschau in dieser Zeit, die er in seinem Artikel Kolonialpolitik und Sozialdemokratie in Heft 3 der Sozialistischen Monatshefte vom März 1907, S. 196 wiedergab. In diesem Heft 3 befindet sich auch Bernsteins Artikel Der Wahlkampf und das Mandat, S. 183 ff. Wenn Calwer und Bernstein Bassermann nahe ständen und für die Sozialdemokratische Partei Sprengpulver seien, erklärte Bebel in Polemik mit Bassermann im Reichstag, warum wurde von den bürgerlichen Parteien alles daran gesetzt, daß beide, „uns zum Ärger und Trotz“, nicht wieder in den Reichstag gewählt wurden? Calwer hätte keinen Grund, über Intoleranz in gewissen Kreisen der Partei zu klagen. Er könne doch publizieren, was er will. Die Partei könne schließlich vertragen, daß Calwer und Bernstein „wirtschaftspolitisch die schärfsten Gegner“ seien, die in der Partei existieren und nicht ausgeschlossen würden. „Aber das können wir ohne Schaden vertragen.“ Siehe August Bebel: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 8/1. Reden und Schriften 1906 bis 1913. Bearbeitet von Anneliese Beske und Eckhard Müller, München 1997, S. 164 ff. Rosa Luxemburg vermißte eine kritischere Distanz zu Calwers Auffassungen. Ihr mißfielen wohl überhaupt die großen Reden Bebels. Als der Vorwärts (Berlin), Nr. 67 vom 20. März 1907, die Reichstagsrede Bebels vom 19. März 1907 veröffentlichte, bemerkte sie zu Kostja Zetkin noch am selben Tag: „Ich kann mich kaum zwingen, das Zeug noch zu lesen, und das Atmen in dieser unbeweglichen Stickluft wird mir schwer.“ In: GB, Bd. 2, S. 282.