Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 97

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Dernburg und Konsorten[1] haben den Mut gezeigt, eine gänzlich unpopuläre Parole mit Trommeln und Pfeifen zu benutzen. Bei ihnen hat sich eben wieder einmal bewahrheitet, was schon Danton rief: „Wagemut, Wagemut, Wagemut!“[2] Sogar mit der lächerlichsten Wahlparole hatte der Wagemut der Dernburg und Bülow also Erfolg. Die Regierung wußte sich den Schein der absoluten Stärke zu geben und hatte damit schon von vornherein halb gesiegt. Das wirkte faszinierend auf die Masse des Spießertums. Dazu kommt der Einfluß der russischen Revolution.[3] Welches Grauen und Entsetzen hat sie erregt! Ja, wäre sie stehen geblieben beim Liberalismus! Wäre sie nur ein Abklatsch geworden der Märzrevolution in Deutschland,[4] dann hätte sich das deutsche Kleinbürgertum damit abgefunden. Aber das ist sie nicht, sondern sie ist einer der gewaltigsten sozialen Kämpfe der Gegenwart geworden. Keine Feuerwerkserscheinung, sondern ein Erdbeben gewaltigster Art ist es, das Rußland bis in seine Grundfesten erschüttert. Bereits wagt man sich dort an das Eigentumsproblem. Verschiedene Leute wußten uns zu „beweisen“, daß Straßenrevolutionen undenkbar seien; Rußland hat sie gehabt in Staunen erregender Machtentfaltung. Konsequent

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[1] Nach den Reichstagswahlen von 1907 schlossen sich die Konservativen, die Nationalliberalen und die Linksliberalen zum Bülowblock („Hottentottenblock“) zusammen. Gestützt auf diesen Block war es Reichskanzler Bernhard von Bülow möglich, im Reichstag eine Reihe reaktionärer Gesetze und Maßnahmen durchzusetzen. Dieser Block zerbrach am 10. Juli 1909, als der Reichstag die Erbschaftssteuer ablehnte.

[2] Diese Bemerkung bezieht sich vermutlich auf Dantons Appell an die Kühnheit der Nationalversammlung vom 2. September 1792, der mit den Worten endete: „Um die Feinde zu besiegen, meine Herren, brauchen wir Kühnheit, nochmals Kühnheit, immer wieder Kühnheit, und Frankreich ist gerettet.“ Zit. nach Walter Markov: Revolution im Zeugenstand, Frankreich 1789–1799, Bd. 1: Aussagen und Analysen, Leipzig 1982, S. 244 und Bd. 2: Gesprochenes und Geschriebenes, Frankfurt/Main 1987, Dok. 87, S. 294.

[3] Am (9.) 22. Januar 1905 waren in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift gezogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven attackiert, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus und war der Beginn der Revolution in Rußland 1905/1906.

[4] Am 18. März 1848 hatten Berliner Arbeiter, Kleinbürger und Studenten den Kampf mit dem preußischen Militär aufgenommen, Barrikaden errichtet und den preußischen Truppen eine Niederlage zugefügt. Friedrich Wilhelm IV. war gezwungen worden, das Militär aus Berlin zu entfernen. Die Regierungsgewalt ging in die Hände der liberalen Bourgeoisie über. Am 8. November 1848 begann der konterrevolutionäre Staatsstreich in Preußen. Unter Befehl des Generals Friedrich von Wrangel marschierte in Berlin Militär ein. Trotz der militärischen Auflösung der Nationalversammlung, der Entwaffnung der Bürgerwehr und der Verhängung des Belagerungszustandes rief die liberale Bourgeoisie die bereitstehenden revolutionären Volksmassen nicht zum aktiven Widerstand auf. Mit dem Verzicht auf ihre in den Märzkämpfen errungenen Positionen verriet die Bourgeoisie die Revolution. Auf dieses Versagen des Liberalismus kam Rosa Luxemburg mehrfach ausführlich und kritisch zu sprechen. Siehe Rosa Luxemburg: Die Lehren des Wahlrechtskampfes. Referat am 5. April 1910 in einer Volksversammlung in Breslau. In: GW, Bd. 7/2, S. 578; dies: Der Wahlrechtskampf und seine Lehren. Referat am 6. April 1910 auf einer Volksversammlung in Bremen. In: ebenda, S. 584.