Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 96

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parlamentarischen Besitzstand auch nicht unterschätzen dürfen, auf den diesmaligen Verlust pfeifen wir. Aber woher resultieren unsere Verluste? Da ist nun schon sehr richtig gesagt, daß uns die Partei der Nichtwähler niedergestimmt hat. Und diese sind der größte Teil des Mittelstandes, vor allem das Kleinbürgertum. Schon Marx hat diese Kreise die unzuverlässigsten Schichten genannt.[1] So, wie sie hin und her geworfen werden auf sozialem Gebiet, so pendeln sie auch in der Politik, bald mit dem Proletariat, bald gegen dasselbe. In den verschiedenen Revolutionsstürmen in Frankreich, 1848 in Deutschland, 1871 in der Kommune von Paris, immer kämpften Kleinbürgertum und Proletariat erst gemeinsam. Und die Reaktion bekam stets erst dann wieder die Gewalt in die Hände, wenn sich das Kleinbürgertum auf ihre Seite schlug. In allen Klassenkämpfen ist also die Gunst oder Ungunst des Kleinbürgertums von ausschlaggebender Bedeutung. Welche Momente haben nun diesmal den Verrat dieser Schichten an unserer Sache herbeigeführt? Der Anlaß zur Auflösung des Reichstages war die Verweigerung einer Forderung der Kolonialpolitik.[2] Unsere Stellung zu dieser zu präzisieren, wäre heute und hier zwecklos. Denn schon vom bürgerlichen Standpunkte ist die deutsche Kolonialpolitik eine Spottgeburt. Bernstein meint freilich, wir hätten übertrieben, als wir immer nur von Sandwüsten gesprochen haben. An ihm scheint also die Dattelkiste nicht ganz spurlos vorübergegangen zu sein. (Große Heiterkeit.) Aus den verschiedenen Auslassungen verschiedener solcher Parteikritiker spricht nicht etwa ein verfeinertes Gerechtigkeitsgefühl, sondern nur eine große Unwissenheit. Häufig sind bürgerliche Politiker viel kritischer als manche Sozialdemokraten. Die ganze deutsche Kolonialpolitik ist doch nichts anderes als der Versuch des Großkapitals, den überschüssigen Reichtum, zumeist natürlich den der Steuerzahler, auf möglichst sinnlose Art zu verprassen. Der Mittelstand ist dabei unbeteiligt und daher ist es undenkbar, daß er auf diese Parole ohne weiteres hereingefallen ist. Außerdem: Das Zentrum hat viel mehr kleinbürgerliche Elemente in seinen Reihen als wir, und doch ist es völlig ungeschoren aus den Wahlen wieder herausgekommen. Es gibt also gar nichts anderes: Die Parole für die Kolonialpolitik war nur der äußere Rahmen der Hetze gegen die Sozialdemokratie. Unter der Parole wollte man sich retten vor der revolutionären Eroberung der Gesellschaft. Und das Philistertum hatte auch Grund genug, sich in die Arme der Reaktion zu flüchten. Nicht Dresden und die dort so notwendig geschaffene Klärung,[3] sondern die vorhergegangenen Wahlen waren es, die das Entsetzen der bürgerlichen Gesellschaft erregt hatten.[4] Und Bülow,

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[1] Siehe Karl Marx: Brief an P. W. Annenkow, 28. Dezember 1846. In: MEW, Bd. 4, S. 557; ders., Friedrich Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850. In: MEW, Bd. 7, S. 249.

[2] Am 13. Dezember 1906 war der Deutsche Reichstag aufgelöst worden. Reichskanzler Bülow hatte die Kaiserliche Verordnung verlesen, die wie folgt lautete: „Der Reichstag wird hierdurch aufgelöst. Urkundlich unter Unserer höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrücktem kaiserlichen Insiegel. Gegeben Bückeburg, den 13. Dezember 1906. gez. Wilhelm gez. von Bülow. Auf Grund dieser Kaiserlichen Verordnung erkläre ich im Namen der verbündeten Regierungen auf Befehl Sr. Majestät des Kaisers die Sitzungen des Reichstages für geschlossen.“ Zit. nach: Der Reichstag aufgelöst! In: Volkswacht (Breslau), Nr. 292 vom 15. Dezember 1906.

[3] Gemeint ist der Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 13. bis 20. September 1903 in Dresden, der einen Höhepunkt in der Auseinandersetzung mit dem Revisionismus in der Partei darstellte. In der Resolution, die mit 288 gegen 11 Stimmen angenommen wurde, heißt es: „Der Parteitag verurteilt auf das entschiedenste die revisionistischen Bestrebungen, unsere bisherige bewährte und sieggekrönte, auf dem Klassenkampf beruhende Taktik in dem Sinne zu ändern, daß an Stelle der Eroberung der Macht durch Überwindung unserer Gegner eine Politik des Entgegenkommens an die bestehende Ordnung der Dinge tritt.

Die Folge einer derartigen revisionistischen Taktik wäre, daß aus einer Partei, die auf die möglichst rasche Umwandlung der bestehenden bürgerlichen in die sozialistische Gesellschaftsordnung hinarbeitet, also im besten Sinne des Wortes revolutionär ist, eine Partei tritt, die sich mit der Reformierung der bürgerlichen Gesellschaft begnügt.“ Parteitagsprotokoll Dresden 1903, S. 418.

[4] Am 16. Juni 1903 hatte die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in den Reichstagswahlen mit 3010771 Stimmen einen Wahlsieg errungen, durch den sie 81 Abgeordnete ins Parlament bekam.