Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 88

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Verwaltung und Meistern andererseits das denkbar schlechteste war und ist, daß dort seit dem Ausbruch der revolutionären Bewegung die Konflikte nicht aufhörten. Zu einem solchen Konflikt kam es wiederum im November. Einer der Herren Ingenieure fühlte sich beleidigt und die Fabrikleitung stellte den Arbeitern folgende Bedingungen: Sie sollten den Beleidigten demütigst um Verzeihung bitten, es sollten 89 Arbeiter entfernt werden, es sollte fortan die Fabrikleitung nach Belieben Arbeiter ohne Kündigung entlassen dürfen, schließlich sollten die Arbeiter sich verpflichten, „regelmäßig zu arbeiten und unter keinen Umständen den Betrieb zu stören“. Die Arbeiter wiesen dieses Ansinnen zurück, weil die Bedingung der kündigungslosen Entlassung unannehmbar ist. Das würde eben bedeuten, daß die Arbeiter sich jeder Willkür fügen, daß sie sich verpflichten, jede Lohnreduktion, jede Verschlimmerung der Arbeitsbedingungen widerstandslos hinzunehmen. Die letzte Bedingung aber bedeutet, daß die Arbeiter sich verpflichten sollten, auf Demonstrationen, auf politische Streiks zu verzichten, „um den Betrieb nicht zu stören“.

Daraufhin erfolgte die Aussperrung bei Poznan´ski, und eine Anzahl anderer Fabriken, Scheibler, Heinzel, Kunitzer, Biedermann, Steinert usw., kündigten ihren Arbeitern in der Weise, daß sie die Sperrung der Fabriken androhten, wenn die Arbeiter von Poznan´ski nicht die Arbeit aufnehmen.

Die Situation ist aber die: In den großen Betrieben, die an der Verschwörung beteiligt sind, arbeiten über 20000 Menschen; gelingt es, die kleinen Betriebe lahmzulegen, indem man ihnen das Garn sperrt, so werden weitere zehn bis 15000 Arbeiter brotlos. Wenn die Arbeiter trotzdem den Kampf aufnahmen, so erklärt sich das daraus, daß für sie eben alles auf dem Spiele steht. Durch die bisherigen Lohnkämpfe haben die Arbeiter Lohnerhöhungen von 25 bis 33 Prozent erzielt; ihre Lage ist daher wohl etwas gebessert, doch kommt in Betracht, daß auch die Lebensmittelpreise durchweg gestiegen sind. Es gilt also vor allem, das Erreichte zu verteidigen. Es gilt aber auch – und das haben die Arbeiter sofort mit richtigem Instinkte erfaßt – die sozialen Errungenschaften der Revolution zu verteidigen. Die Łódźer Arbeiter haben erreicht, daß die Unternehmer sie nicht mehr wie willenlose Sklaven behandeln dürfen, daß sie mit ihnen wie Macht zu Macht verhandeln; setzen die Unternehmer jetzt ihren Willen durch, brechen sie den Widerstand der Arbeiter, dann kehren die alten Zustände zurück, dann werden die Łódźer Fabriken von neuem den Arbeitern zur unerträglichen Hölle, dann wird wieder die alte Sklaverei eingeführt. Und dagegen eben wehren sich die Arbeiter, deshalb nahmen sie todesmutig den Verzweiflungskampf auf.[1]

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[1] Die Aussperrung der Textilarbeiter der Poznan´skyschen Unternehmensgruppen begann am 7. Dezember 1906 und es wurde gedroht, daß am 29. Dezember sämtliche Fabriken der Textilindustrie in Łódź aussperren werden, falls sich die bisher Ausgesperrten nicht bedingungslos den Unternehmern ausliefern würden und damit einverstanden seien, daß „zur Strafe“ jeder fünfte Arbeiter endgültig entlassen werde. Die allgemeine Aussperrung dauerte vom 29. Dezember 1906 bis 19. April 1907. Bis zu 80000 bzw. 100000 Menschen wurden brotlos, und die Not nahm täglich zu. Siehe auch Rosa Luxemburg: Łódź. In: GW, Bd. 7/2, S. 741 ff.; dies.: Ein Riesenkampf in Łódź. In: ebenda, S. 747 ff.