Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 84

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nur für Oberschlesien, sondern auch für die übrigen Teile der preußischen Monarchie, in der die polnische Bevölkerung vorwiegt, ebenso aber auch für die zahlreichen, oft sehr starken polnischen Kolonien in den Großstädten und in sonst deutschen Industriebezirken, im Rheinland und anderswo. Es handelt sich hier um ein paar Millionen Proletarier und es ist gar nicht zu bestreiten, daß wir hier wichtige, bisher unterschätzte oder nicht beachtete Aufgaben von großer Bedeutung zu erfüllen haben. Das in langen Jahren Versäumte jetzt plötzlich nachzuholen, ist unmöglich, die nun wohl auch in weitere Kreise gedrungene Erkenntnis von der Wichtigkeit dieser Aufklärungsarbeit aber wird uns dazu führen, in den kommenden Jahren ganz anders wie bisher an der Gewinnung des polnischen Proletariats für die Sache der Arbeiterklasse zu arbeiten. Die Polenführer fürchten diese Gefahr lange, sie wissen auch, daß, wenn die Sozialdemokratie hier einmal ernst vorgeht, das polnische Proletariat Preußens in nicht langer Zeit zum besten begeistertsten Teil der deutschen Sozialdemokratie gehören wird. Und die Furcht davor diktiert ihnen jene verächtliche Verleumdungstaktik gegen die Sozialdemokratie, gegen die beste, treueste Freundin und Helferin des geknechteten und mißhandelten polnischen Volkes.

Wird es also noch nicht gelingen, in Oberschlesien die nationalpolnische Bewegung hinter die sozialdemokratische zurückzudrängen, so darf man doch sicher hoffen, daß wenigstens ein größerer Teil polnischer Arbeiter mehr wie bisher zur Erkenntnis kommen wird, daß nur die Sozialdemokratische Partei die berufene Vertreterin des polnischen arbeitenden Volkes ist. Und das wäre ein erfreulicher Schritt vorwärts auf der steinigen und steilen Bahn, die in Oberschlesien die Sozialdemokratie zu gehen gezwungen ist. In fünf von den sechs zum Agitationsbezirk Kattowitz gehörenden Wahlkreisen sind in Rücksicht auf die in ihrer großen Mehrheit polnische Bevölkerung Kandidaten polnischer Nationalität aufgestellt, Mitglieder der Polnisch-Sozialdemokratischen Partei (PPS), die nach der im vergangenen Frühling vollzogenen Einigung in bester Harmonie mit den Angehörigen der deutschen Sozialdemokratischen Partei lebt.[1] Nur in einem der sechs Wahlkreise, Groß-Strehlitz-

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[1] Die Konstituierung der Polska Partia Socjalistyczna (PPS – Polnische Sozialistische Partei) in dem von Preußen annektierten Teil von Polen war am 10. September 1893 aus der 1890 gegründeten Vereinigung polnischer Sozialisten unter Führung von Franciczek Morawski und Franciczek Merkowski mit anderen polnischen sozialistischen Gruppen erfolgt. Die PPS blieb bis 1903 autonomer Bestandteil der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Siehe hierzu Zur Frage der polnischen Einigung und Wie die polnische Sonderorganisation die „Einigung“ versteht. In: GW, Bd. 6, S. 467 ff. und 473 f. Die PPS im preußischen Teil Polens hielt engen Kontakt zur 1892 in Paris aus verschiedenen sozialistischen Zirkeln gegründeten Polska Partia Socjalistyczna (PPS – Polnische Sozialistische Partei) und mit der 1892 in Lemberg (Lwiw) gegründeten Sozialdemokratischen Partei Galiziens (Socjalno-Demokratyczna Partia w Galicji), aus der mit ihrem führenden Vertreter Ignacy Daszýnski 1897 die Polnische Sozialdemokratische Partei Galiziens und des Teschener Schlesiens (PPSD – Polska Socjalno-Demokratyczna w Galicji i S´la˛ska Cieszýnsiego) hervorging.

Die Polnische Sozialistische Partei im preußischen Teilungsgebiet bemühte sich nach dem selbstverschuldeten Bruch mit der SPD im Jahre 1903 um eine neuerliche Einigung, die im Frühjahr 1906 tatsächlich erfolgte. Auf dem 9. Parteitag der PPS am 15./16. April 1906 wurden die Leitlinien des SPD-Parteivorstands angenommen. Damit galt als festgelegt, daß die polnischen Sozialdemokraten im Deutsch Reich (PPS) eine selbständige Organisation bilden, die aber Bestandteil der Gesamtpartei (SPD) ist. Die Aufstellung der Reichstagskandidaten werde auf Konferenzen im Wahlkreis erfolgen. Bei Nichteinigung sollten sich die Parteivorstände der polnischen Partei und der Gesamtpartei verständigen. Siehe Parteitagsprotokoll Mannheim 1906, S. 17 f.