Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 80

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genüber den Tausenden von Opfern auf dem Schlachtfelde der Arbeit? Was bedeutet es, wenn ein glücklicher Rentenempfänger pro Tag 33 Pf. Rente erhält? Ich möchte, daß der Herr Fleischermeister Kobelt auf eine solche Rente gesetzt würde! Ich glaube, er würde bald zum rotesten Sozialdemokraten werden. „Was bedeutet die nationale Politik weiter?“ fragt die Rednerin und erinnert an die Soldatenmißhandlungen[1] usw. Die nationale Politik bedeute endlich auch die ständige Tendenz zu Ausnahmegesetzen gegen die arbeitende Bevölkerung. Die letzten Tage haben dahingehende Stimmen aus der gegnerischen Presse genügend gebracht.

Es ist ja kein Wunder, wenn es soweit gekommen ist und es genügt, einen Blick auf die Entwicklung der bürgerlichen Parteien zu werfen, wenn wir die gegenwärtig herrschende Reaktion begreifen wollen. Das Zentrum hat sich von einer Oppositions- zu einer Regierungspartei durchgemausert. Ein erschütternderes Bild des Niedergangs, als es der Freisinn bietet, kann man sich nicht vorstellen. Dieser Verfall des Freisinns[2], der im Wahlkampfe mit allen reaktionären Parteien gemeinsame Sache macht, hat auch geschichtliche Bedeutung, die nämlich, daß die bürgerliche Demokratie bis auf einen kläglichen Rest aufgerieben ist. Wie im Wirtschaftsleben die Mittelschichten aufgerieben werden, so werden in der Politik die Liberalen aufgerieben und der Sozialdemokratie stellt sich eine einzige reaktionäre Masse gegenüber. Diese Aufreibung der bürgerlichen Demokratie muß zu immer schärferen Konflikten führen. Ein solcher Konflikt ist der Wahlkampf. Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß die Auflösung des Reichstags[3] in erster Linie wegen des Zentrums erfolgte, während die So-

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[1] Zu den Soldatenmißhandlungen, deren Enthüllung zum antimilitaristischen Kampf der deutschen Sozialdemokratie von Anbeginn gehörte, siehe Rosa Luxemburg: Notizen zur Prozeßvorbereitung

über Soldatenmißhandlungen. In: GW, Bd. 7/2, S. 853 ff.

[2] Der Freisinn existierte zwischen 1893 und 1910 als Freisinnige Volkspartei und als Freisinnige Vereinigung. Die zwei Parteien des Freisinns waren infolge der Differenzen über die Stellung zur Militärvorlage von 1892/1893 aus der Spaltung der Deutschen Freisinnigen Partei hervorgegangen. Die Freisinnige Volkspartei war eine kleinbürgerlich-liberale Partei und die eigentliche Nachfolgerin der Deutschen Fortschrittspartei von 1861. Diese hatte sich in ihrem Gründungsdokument für größte Sparsamkeit für den Militarismus im Frieden, die Aufrechterhaltung der Landwehr, die allgemein einzuführende körperliche Ausbildung der Jugend und die erhöhte Aushebung der waffenfähigen Mannschaft bei zweijähriger Dienstzeit ausgesprochen. Die Freisinnige Volkspartei besaß 1907 28 Reichtagsmandate. Die Freisinnige Vereinigung war eine großbürgerlich-liberale Partei und versuchte den freihändlerisch orientierten Gruppierungen der Bourgeoisie einen maßgeblichen politischen Einfluß zu verschaffen. Das meinte sie durch Unterstützung der Aufrüstungs- und Expansionspolitik, eine liberal-sozialreformerische Innenpolitik und Zurückdrängung des Junkertums erreichen zu können. 1908 spaltete sich eine bürgerlich-demokratische Gruppe als Demokratische Vereinigung unter dem Vorsitz von Rudolf Breitscheid von der Freisinnigen Vereinigung ab. Am 6. März 1910 vereinigten sich die Freisinnige Volkspartei, die Freisinnige Vereinigung und die Süddeutsche Volkspartei zur Fortschrittlichen Volkspartei, einer liberalen Partei mit flexiblerer Strategie und Taktik imperialistischer Politik, die sich von besonders konservativ-militaristischen, reaktionären Kreisen abgrenzte und im Reichstagswahlkampf 1912 42 Mandate erzielte. Ende 1918 entstand aus dem Zusammenschluß mit dem linken Flügel der Nationalliberalen und bürgerlich-demokratischen Gruppen die Deutsche Demokratische Partei.

[3] Am 13. Dezember 1906 war der Deutsche Reichstag aufgelöst worden. Reichskanzler Bülow hatte die Kaiserliche Verordnung verlesen, die wie folgt lautete: „Der Reichstag wird hierdurch aufgelöst. Urkundlich unter Unserer höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrücktem kaiserlichen Insiegel. Gegeben Bückeburg, den 13. Dezember 1906. gez. Wilhelm gez. von Bülow. Auf Grund dieser Kaiserlichen Verordnung erkläre ich im Namen der verbündeten Regierungen auf Befehl Sr. Majestät des Kaisers die Sitzungen des Reichstages für geschlossen.“ Zit. nach: Der Reichstag aufgelöst! In: Volkswacht (Breslau), Nr. 292 vom 15. Dezember 1906.