Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 464

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In der ersten Epoche wurde errungen das freie Stadtrecht der unabhängigen Bevölkerung und die Befreiung der Handwerker vom Hofrecht.

Danach sehen wir also das freie Stadtrecht und die persönliche Freiheit der in der Stadt wohnenden Bevölkerung. Zugleich aber große Unterschiede in der politischen Lage. Die Geschlechter wählen den Stadtrat und geben darin Gericht und Gesetz. Die Handwerker, die früher unter dem Hofgericht standen, stehen nunmehr unter dem freien städtischen Gericht. In diesem Gericht aber wie im Stadtrat führen nur die Geschlechter die Herrschaft.

Also die Geschlechter haben die politische Herrschaft in der Stadt errungen, die Handwerker die persönliche Freiheit ohne Anteil an der politischen Herrschaft.

Daraus ergaben sich sofort neue Kämpfe zwischen Handwerkern und Geschlechtern um die politischen Rechte.

Es ergab sich, daß die Stadt jetzt innerhalb der ganzen feudalen Gesellschaft das einzige Zentrum darstellte, in dem man vom Hofrecht bürgerliche Freiheit erringen konnte. Früher war nur der frei, der freien, nicht abgabenpflichtigen Grundbesitz hatte.

Nun geschieht etwas Weltgeschichtliches, ein neuer Typus der persönlichen Freiheit entsteht: die Handwerker sind schon persönlich freie Bürger auf Grund des Handwerks, das sie ausüben.

Die Stadt wurde daher Anziehungspunkt der Hörigen vom flachen Lande, weil man in ihr die persönliche Freiheit erringen konnte. Die Stadt gewährte den Fliehenden gern Zuflucht, weil alle diese Zuzügler geborene Feinde des feudalen Hofrechts waren, des gemeinsamen Feindes.

Der freie Stadtrat der Geschlechter gewährte solchen Zuzüglern Schutz innerhalb der städtischen Mauer. Es ergab sich bald das Recht, daß ein Höriger, der entlaufen war und ein Jahr und einen Tag innerhalb der Stadtmauer gelebt hatte, nicht mehr von dem Hofherrn zurückverlangt werden konnte. Hatte ein Fronherr einen entlaufenen Hofhörigen nach einigen Monaten in der Stadt entdeckt, so mußte die Stadt den Hörigen ausliefern. Entdeckte der Hofherr ihn aber erst nach Jahr und Tag, dann erhielt er ihn nicht zurück. Daraus entwickelte sich der Grundsatz: Die Luft in der Stadt macht frei.[1]

Im Stadtrecht von Basel: „Packt ihn der Herr also in der ersten Jahresfrist, so soll man ihn dem folgen lassen. Geschieht das aber innerhalb des Jahres nicht, so ist das Hofrecht verfallen.“

Im sächsischen Stadtrecht auch: „Welcher Mann beim Weichbild gesessen hat Jahr und Tag ohne jedermanns Anspruch, der mag sein Freiheit bass behalten, selbst (nebst?) sieben seiner nächsten Magen (Magen = Verwandten).“

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[1] Siehe Georg von Below: Der Ursprung der deutschen Stadtverfassung, Düsseldorf 1892, S. 93 ff; Ernst Theodor Gaupp: Deutsche Stadtrechte des Mittelalters mit rechtsgeschichtlichen Erläuterungen. Erster Band, Breslau 1851, S. 256 ff.; Gerhard Dilcher: Bürgerrecht und Stadtverfassung im europäischen Mittelalter, Köln 1996.