Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 114

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VI.

22. November 1907 – Die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft –

Nach einem Polizeibericht vom 23. November 1907

Die Luxemburg ließ sich in einem zweistündigen Vortrag über die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft aus.

Bisher waren Produktionsmittel und Arbeitskraft immer geeinigt und von einer geplanten, organisierten Leitung geführt. Dies war so bei den urchristlichen Kommunen, später bei den Sklavenhaltern, im Mittelalter bei den Zünften usw. Immer gehörten Produktionsmittel und Arbeitskraft zusammen.

Erst die Entwicklung des Kapitals hat einen großen Riß in diese historische Tatsache gemacht. Sie stellte die Dinge auf den Kopf. Das Produktionsmittel wurde der Feind der Arbeitskraft. Das Kapital entwickelte sich ganz mechanisch; und zog die Kapitalisten an sich, vereinigte sie und vergesellschaftete sie. Hierdurch wurde die Leitung der Produktion unpersönlich, es herrscht vollständige Anarchie. Mit jeder neu erfundenen Maschine wird der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeitskraft größer, das ging soweit, daß sich zuletzt Kapital und Arbeiter als Klassen gegenüberstanden. Der Kapitalismus umfaßte alle die, die nichts stellten als die Produktionsmittel, die Arbeiterklasse umfaßte alle, die keine Produktionsmittel besaßen, sondern nur Arbeitskraft. Mit der Zeit wurde das Produktionsmittel zum Feind der Arbeitskraft, ein ganz anormaler Zustand. Der Kapitalismus entwickelte sich immer weiter, er entwand sich vollständig den Händen eines Einzelnen und dem Willen des Menschen. Er entwickelte sich ganz mechanisch, sich nur als Selbstzweck, nur sich als Ziel. Aber von Zeit zu Zeit schlug er sich selbst aufs Haupt, durch Geschehnisse, deren Abwendung nicht in seiner Macht lag, die Krisen. Durch die Krisen wurden ganze Massen von Produktionsmitteln sowohl wie von Arbeitskräften vernichtet. Die Krisen waren aber zum Weiterexistieren des Kapitalismus notwendig. Der Kapitalismus stellte, wie gesagt, alle Dinge auf den Kopf; jede Maschine, die erfunden wurde und doch eigentlich die Arbeitskraft der Menschen entlasten sollte, belastete sie. Die Gesellschaft wurde nur noch Mittel für die Produktion des Kapitals. Beweis hierfür sind der Militarismus, die Kolonialpolitik, die Flottenpolitik, das Bauen von Eisenbahnen in unfruchtbaren Wüsten usw. Das stetige Wachsen des Kapitalismus in die Tiefe sowohl wie in die Breite zeigt aber in seinen höchsten Höhen, den Trusts in Amerika, schon Ansätze zur Organisation.

Auf der anderen Seite wächst allerdings auch die proletarische Masse der Arbeitskraft. Diese wird immer mehr herabgedrückt mit Hilfe des Lohngesetzes. Es ist keinem Angehörigen dieser Klasse möglich, sich von der Herrschaft des Kapitals freizumachen.

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