Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 109

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Nach einem Polizeibericht vom 19. Oktober 1907

Die Luxemburg führte in ihrem zweieinhalbstündigen Vortrag etwa folgendes aus:

Nationalökonomie ist eigentlich ein falscher Ausdruck, schon Marx hat dieses Wort nie gebraucht, er setzte dafür „politische Ökonomie“. In der Tat müßte es auch richtig, ganz genau heißen „Weltwirtschaftsökonomie“ – Sie führte als Beweis dafür, daß eine Wirtschaftsökonomie innerhalb einer Nation unmöglich sei, die Entwicklung der Baumwollindustrie an und zeigte an der Hand dieser Entwicklung, welche gegenseitige Abhängigkeit zwischen fast allen Nationen sich an dem Verlauf der Entwicklung der Baumwollindustrie feststellen lasse, u. so sei es mit allen Industriezweigen.

Die Gelehrten hätten unrecht, wenn sie behaupteten, schon die alten Griechen u. Römer hätten eine Nationalökonomie gehabt. Die Nationalökonomie ist eine Wissenschaft, die erst infolge des Kapitalismus entstanden sei. Für diese Wissenschaft hätten die ungebildetsten Proletarier mehr Verständnis als die gelehrtetsten bürgerlichen Professoren. Diese definieren den Begriff der Nationalökonomie ganz falsch; sie sagen, Nat.Ökon. sei der wirtschaftliche Verkehr vom Menschen zum Menschen. Das ist falsch. Z. B. braucht man keine Wissenschaft, um den Wirtschaftsverkehr zwischen Ehegatten, auf dem Bauerngut, ja sogar den auf den Gütern Kaiser Karls des Großen zu begreifen. Wohl aber braucht man diese Wissenschaft, um Rätsel zu lösen wie z. B., wodurch entstehen Krisen, Arbeitslosigkeit, Preisschwankungen. –

In der nunmehr eintretenden Pause werden der L[uxemburg] zwei Fragen zugestellt.

Als sie nach einer Viertelstunde den Vortrag fortsetzt, geht sie zunächst auf die Fragen ein. Die erste lautete, ob die Rosa alle bürgerlichen Professoren für zu unwissend hält, um die Nationalökonomie zu begreifen? Sie antwortet darauf, sie könnte zur Beruhigung der Fragerin sagen, daß alle diese Herren schwer gelehrt seien, daß sie aber nicht fähig seien, den sozialen Zusammenhang der Weltwirtschaftsökonomie zu begreifen; denn das sei eine Wissenschaft, die sich gegen die herrschenden Klassen richtet.

Die zweite Frage knüpft an eine Bemerkung der L[uxemburg] an. Sie hatte im Laufe ihrer Rede den Ausdruck gebraucht: „Entmenschte Bourgeois“. Die Frage will beantwortet haben, ob es streng wissenschaftlich sei, von „Entmenschten Bourgeois“ zu sprechen. Die L[uxemburg] hilft sich auch hier aus der Verlegenheit. Sie antwortet: Zunächst müsse sie auf die in der Frage enthaltene Spitze antworten, daß man streng wissenschaftlich sein und dennoch, nur gerade deshalb Temperament besitzen muß. Jede Wissenschaft ist eine Kampfwissenschaft, als Beispiel nennt sie die Naturwissenschaft und die Namen Darwin und Haeckel. Die Bourgeois sind durch die historische Entwicklung des Kapitalismus zu ihrer unmenschlichen Ausbeutungswirtschaft gezwungen, gerade das beweist die Nationalökonomie, und in diesem logischen Zu-

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