Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.1, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 132

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hervorgerufen, die schließlich ein viermonatliches Moratorium notwendig machte. Ein Run auf die Kassen der Ottomanbank rief an den europäischen Börsen Gerüchte über Schwierigkeiten des Institutes hervor. Das mußte in einem Moment, wo die französische und die deutsche Bankwelt mit der Banque Ottomane über eine Konvertierung der türkischen Staatsschuld verhandelte, doppelt verhängnisvoll wirken. … In Wien, wo die „Überspekulation der leeren Taschen“ – so hat sie später ein Wiener Nationalökonom genannt – wahre Orgien gefeiert hatte, und wo außerdem die Handelswelt große Summen an ihren türkischen Geschäftsverbindungen verlor, trat eine Panik ein. Eine große Anzahl von Börsenfirmen konnte ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, die Zahl der „kleinen Leute“, die zahlungsunfähig wurden, ging in die Dutzende. In Berlin sah man sich genötigt, Zwangsexekutionen en masse vorzunehmen, da die verlangten neuen Einschüsse auf die spekulativen Engagements ausblieben. Exekutionen für Österreich-Ungarn, aber auch Exekutionen für das deutsche Provinzpublikum, in dessen Reihen ebenfalls eine Überspekulation grassiert hatte, gaben der Börse vom 9. November 1895 das Kolorit.

Der „schwarze Sonnabend“ warf Reflexbewegungen auch nach Paris und London, wo starke Rückgänge in türkischen Werten sowie in Goldminenwerten eintraten. Die italienischen Börsen wurden ebenfalls affiziert, da Paris, um seine baren Mittel zu vergrößern, seine Bestände an „Italienerrente“ stark reduzierte. Auch in Brüssel und Antwerpen trat eine Anzahl von Zahlungsstockungen ein. Überall mußte die haute banque eingreifen, um eine Verschärfung der Krisis zu verhindern. In Österreich-Ungarn war es speziell das Wiener Haus Rothschild, das durch Interventionen und Stützungsaktionen eingriff. Trotzdem konnte sich die Wiener Börse jahrelang nicht von diesem Schock erholen. Ja man kann sogar sagen, daß seit jener Zeit der Niedergang der Wiener Börse ihr Ausscheiden aus der Reihe der „großen“ Börsen datiert. In Berlin trat trotz der starken Verluste, die der Berliner Markt speziell an der österreichischen Kundschaft erlitt, sehr bald eine Erholung ein. Der Einfluß der 1894 in Wirksamkeit getretenen Handelsverträge[1] übte eine heilende Wirkung aus.

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[1] In der Quelle: 1895. – Der am 10. Februar 1894 geschlossene und im März 1894 vom Deutschen Reichstag bestätigte Handels- und Wirtschaftsvertrag beendete den sich ab 1871 verschärfenden Zollkrieg zwischen Rußland und Deutschland. Für den Handel wurde das Prinzip der Meistbegünstigung gewährt. Die Aktiengesellschaften wurden gegenseitig anerkannt und ihnen der Status der Gerichtsbarkeit zugesichert. Ein- und Ausfuhrverbote wurden unterbunden und der Grenzverkehr gewährleistet. Zudem regelte der Vertrag den Schiffsverkehr zwischen Rußland und dem Deutschen Reich sowie die Einnahme von Gebühren für den Eisenbahnverkehr.