Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 491

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Friedensutopien

I

Leipzig, 6. Mai

Die Agitation zu den Reichstagswahlen[1] wird von unsrer Partei allenthalben mit Frische und Eifer begonnen. Ihre allgemeine und denkbar glücklichste Einleitung war aber die glänzende Maifeier, die sich trotz aller abmahnenden Einflüsse und lähmender Einwirkungen aus Kreisen, welche die Maifeier als einen „lahmen Klepper“ betrachten, zu einem imposanten Demonstrationsmassenstreik gestaltet hat. Hier hat sich wieder gezeigt, wieviel begeisterte Kampfstimmung und opferfreudiger Idealismus in den Arbeitermassen lebendig sind. Um so mehr wird es zur dringenden Aufgabe der Partei, die diesjährige Reichstagswahlagitation nicht bloß zum Kampf um eine möglichst große Anzahl von Wählern und Mandaten, sondern in erster Linie zu einer Periode intensiver Aufklärung über die Grundsätze und die ganze Weltanschauung der Sozialdemokratie zu gestalten. Einer der Zentralpunkte des Wahlkampfes und der Agitation wird naturgemäß wieder die Frage des Militarismus sein. Und im Hinblick darauf gewinnt die Klärung unsres Standpunkts in dieser Frage, die sich an die jüngste Debatte im Reichstag geknüpft hat, dauernde und weittragende Bedeutung.

Wenn lediglich die Frage zur Diskussion stehen würde, ob unsre Reichstagsfraktion recht gehandelt hatte, einen Antrag einzubringen, der die deutsche Regierung zu Abmachungen behufs Einschränkung der Rüstungen aufforderte, so hätte der Streit sicher kein ernstes Interesse beanspruchen können. Da wir uns der parlamentarischen Tribüne als eines der wirksamsten Agitationsmittel bedienen müssen, so erscheint es als einfache Pflicht der sozialdemokratischen Abgeordneten, jede Gelegenheit auszunützen, um die Auffassung der Partei über wichtigste Erscheinungen

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[1] Die Reichstagswahlen fanden am 12. Januar 1912 statt. Die Sozialdemokratie konnte die Zahl ihrer Mandate gegenüber 1907 von 43 auf 110 erhöhen und wurde somit zur stärksten Fraktion im Reichstag.