Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 414

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griffen; zunächst streiken die Werkstättenarbeiter, dann auch die jüngeren Betriebsbeamten“ – kurz, alles mit einer Plastik, Lebendigkeit und einem Realismus, die um so bewundernswerter sind, als es sich um Vorgänge in der blauen Luft handelt. Als aber die Frage aus dieser luftigen Höhe, wo die Theorie wie ein Aar ruhig ihre Kreise zog, zum ersten Male auf die platte Erde der preußischen Wahlrechtskampagne herniederstieg, da verwandelte sich plötzlich die kopflose und ratlose preußische Regierung in einen Rocher de bronze, die zur sozialen Revolution („Hurra! Marsch, marsch!“) fertigen deutschen Verhältnisse, wie sie der „Weg zur Macht“ schildert, in ein starres Land, wo „gar nicht daran zu denken ist“, daß die staatlichen Werkstättenarbeiter und die Betriebsbeamten, seien es jüngere oder ältere, an einer Demonstration mittun, und die „revolutionäre Ära, die anhebt“, verwandelte sich in eine fleißige Vorbereitung zu den Reichstagswahlen, denn „es gibt wenige Erfolge, die so sinnenfällig der Masse unsere Kraft dokumentieren“ wie – Reichstagsmandate.

Himmelstürmende Theorie – und „Ermattung“ in der Praxis, revolutionärste Perspektiven in den Wolken – und Reichstagsmandate als einzige Perspektive in der Wirklichkeit. Genosse Kautsky hat seinen Feldzug gegen mich mit der dringenden Notwendigkeit erklärt, die Idee des Massenstreiks vor einer Kompromittierung zu retten. Ich fürchte beinahe, es wäre sowohl für die Idee des Massenstreiks wie für den Genossen Kautsky besser gewesen, wenn diese Rettungsaktion unterblieben wäre.

VI

Kehren wir nach Preußen zurück.

Ich habe Anfang März angesichts der begonnenen Wahlrechtskampagne und der steigenden Demonstrationsbewegung erklärt, die Partei müsse, wenn sie die Bewegung weiter vorwärtsführen wolle, die Losung des Massenstreiks auf die Tagesordnung stellen, wobei ein Demonstrationsmassenstreik der erste Schritt in der gegenwärtigen Situation sei. Ich meinte, die Partei stehe vor einem Dilemma: Entweder wird sie die Wahlrechtsbewegung zu schärferen Formen steigern, oder aber die Bewegung wird, wie schon 1908, nach kurzer Zeit wieder einschlafen. Dies war es ja, was den Genossen Kautsky gegen mich auf den Plan gerufen hat.

Und was sehen wir? Genosse Kautsky weist darauf hin, daß wir ja, mir zum Trotz, keine Spur von Massenstreik erlebt hätten, er triumphiert, daß meine Anregung von den Verhältnissen „mausetot“ geschlagen worden sei. Nun, Genosse Kautsky hat, scheint’s, im polemischen Eifer ganz

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