Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 2, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2004, S. 353

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diversen Spielarten: Demonstrationsstreik, Zwangsstreik, ökonomischer Streik, politischer Streik, durchführt. Genosse Kautsky fordert, daß man sie streng auseinanderhalte, denn bei ungenügender Klarheit der Propaganda könnten die Massen uns falsch verstehen und anstatt des von uns beabsichtigten Demonstrationsstreiks unversehens einen unangebrachten „Zwangsstreik“ ausführen, die Vermengung aber ökonomischer Forderungen und sogar einer Bewegung für den Achtstundentag mit der Wahlrechtsbewegung könne diese letztere nur schädigen.

Nun mögen solche strengen Rubrizierungen und Schematisierungen des Massenstreiks nach Arten und Unterarten auf dem Papier gut bestehen und auch für den gewöhnlichen parlamentarischen Alltag ausreichen. Sobald jedoch große Massenaktionen und politische Sturmzeiten beginnen, werden diese Rubriken vom Leben selbst durcheinandergeworfen. Dies war zum Beispiel in höchstem Maße in Rußland der Fall, wo Demonstrationsstreiks und Kampfstreiks unaufhörlich abwechselten und wo die unaufhörliche Wechselwirkung der ökonomischen und der politischen Aktion gerade das Charakteristische des russischen Revolutionskampfes und die Quelle seiner inneren Kraft ausmachte. Genosse Kautsky lehnt freilich das Beispiel Rußlands ab, weil „in Rußland damals die Revolution herrschte“[1]. Da die russischen Vorgänge unter die Rubrik „Revolution“ gehören, sollen die Lehren der russischen Kämpfe für andere Länder keine Geltung haben. Aber je mehr wir auch in Deutschland Zeiten stürmischer Auseinandersetzungen des Proletariats mit der herrschenden Reaktion entgegengehen, um so mehr gelten auch die Erscheinungen der revolutionären Situation für unsere Verhältnisse.

Doch brauchen wir nicht einmal nach Rußland zu blicken, um das Unzutreffende jenes leblosen Schemas einzusehen. Genau dasselbe zeigt uns nämlich auch die Geschichte des Wahlrechtskampfes in Belgien, wo weder Krieg noch Revolution stattfanden. Genosse Kautsky meint, „das Leben ist … bisher so pedantisch gewesen“,[2] den ökonomischen und den politischen Kampf streng auseinanderzuhalten, wenigstens „in den Wahlrechtskämpfen Westeuropas“ wäre „bisher das ökonomische und das politische Moment streng geschieden“[3] gewesen. Genosse Kautsky befindet sich im Irrtum.

Die belgische Wahlrechtsbewegung nahm ihren Anfang im Jahre 1886, und zwar von einem ganzen Sturm wirtschaftlicher Kämpfe. Zuerst war es

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[1] K. Kautsky: Was nun? In: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 35.

[2] Ebenda.

[3] Ebenda.