Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 971

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1917

Kalender für das Jahr 1917

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1917
1. Januar (Montag) Wronke![1]

[1] In der Festung Wronke saß sie seit 26. Oktober 1916 in militärischer Sicherheitshaft, auch Schutzhaft genannt. Wronke, zu deutsch Krähwinkel [Bei Mathilde Jacob heißt es Krähennest.], lag eine Stunde Bahnfahrt von Posen entfernt in dem von Preußen annektierten und dem Deutschen Reich eingegliederten polnischen Gebiet. – „Als R. Luxemburg im Gefängnis eingeliefert wurde, war sie mir selbstverständlich ein Begriff“, erinnerte sich Dr. Ernst Dossmann, der Gefängnisdirektor in Wronke, nach einer Gesprächsniederschrift von 1950. „Ich wußte, wen ich vor mir hatte. Sie wurde mir streng geheim überwiesen, wobei ich die Anweisung bekam, die Gefangenenwärter über ihre Anwesenheit nicht zu unterrichten. Sie kam aus Berlin Barnim-Str. zu uns. Ihre Anwesenheit sprach sich aber doch in kurzer Zeit herum. Sie kam zu uns in Schutzhaft. Das Oberkommando in Marken und in Berlin wollten, daß sie hier ihre Strafen, die sie von früher her noch nicht verbüßt hatte, verbüßt. Ich mußte lavieren, daß es nicht so weit kam, daß sie Gefängnisstrafen verbüßen mußte. Als Schutzhaftgefangene lebte sie unter bedeutend günstigeren Bedingungen. Darum wurde Wert darauf gelegt, daß keine Strafen vollstreckt wurden.“ Nach den üblichen Aufnahmeformalitäten habe er sie aufgesucht. „Ich hatte von ihr einen anderen Eindruck, als ich erwartet hatte. Ich legte sie gleich in die Räume, die für Festungsgefangene vorgesehen waren. Das waren frühere Lazaretteinrichtungen mit größeren Fenstern. Ich ließ ein Zweifensterzimmer als Wohnzimmer zurechtmachen, sowie ein eigenes Schlafzimmer mit eigener Toilette. Es war nicht üblich, daß Schutzhaftgefangene zwei Räume bekamen. Außerdem ließ ich die Tür zwischen Wohn- und Schlafzimmer ständig offen, was ebenfalls nicht üblich war. All dies erfolgte, nachdem sie eine Woche da war.

Diese Sonderbehandlung entsprang daraus, daß sie mir imponierte und daß ich persönliches Mitleid mit ihr empfand. Ich hatte den Eindruck, daß das Oberkommando in Marken sie drückt. Es war für mich selbstverständlich, daß sie ein Konversationslexikon und Papier und Schreibzeug zur Verfügung hatte. All dies waren Sachen, die aus dem gewöhnlichen Rahmen fielen und die gewährt werden konnten, weil sie Schutzhaftgefangene war.

Nach einer Woche hatte sie sich eingelebt. Sie konnte aufstehen, wann sie wollte. Sie war jedoch eine Frühaufsteherin. Jeden Morgen machte sie einen kräftigen Spaziergang im Gärtchen, fütterte die Vögel und begoß die Blumen. Dann trank sie Kaffee. Anschließend setzte sie sich hin und arbeitete, schrieb und schrieb. Bei schönem Wetter im Garten, bei schlechtem Wetter im Wohnzimmer. Mittags zwischen 12–13 Uhr brachte ihr der Hotelbote das Mittagessen aus dem ‚Fremdenhof-Gegenmantel‘ in Wronke am Markt. Dieses Hotel schickte ihr mittags und abends das Essen. Diese Regelung hatte ich ihr vorgeschlagen. Sie ließ durch Mathilde Jacob, ihre Sekretärin, direkt das Geld an das Hotel überweisen. Die Verpflegung war trotz des Krieges großartig. Der Besitzer hatte Verbindung mit den Gütern der Umgebung, bei ihm verkehrten der Probst und polnische Gutsbesitzer, und die sorgten für alles. Ich selbst aß auch dort. Morgens, wenn es in der Gefängnisküche etwas Besonderes gab, schickte man ihr extra. Sie aß besonders gern den Eintopf. Nachmittags arbeitete sie weiter.

Sie machte auch Spaziergänge mit mir. Mit ihr spazieren zu gehen, war ein Genuß. Politisch haben wir uns fast nicht unterhalten. Das war so ein Abkommen zwischen uns. Wir standen auf dem Neckfuß. Charakteristisch für sie war eine Geschichte im Zusammenhang mit der Zeichnung der Kriegsanleihe.

Ich bekam die Anweisung, die Gefangenen darauf hinzuweisen, daß sie in Briefen ihre Angehörigen auffordern, Kriegsanleihe zu zeichnen. Bei einem Spaziergang fragte ich sie: ,Nun Frau Dr. wie viel werden Sie für die Kriegsanleihe zeichnen?‘ Darauf überlegte sie kurz und erwiderte in ihrer Art: ‚Wissen Sie Herr Dr., ich werde genau so viel zeichnen, wieviel Sie geben für unseren Parteifond!‘“ Siehe SAPMO-BArch, NY 4002/67, Bl. 1 f.

„Wronke war damals ein deutsches Städtchen ohne besonders einprägsame Merkmale“, erinnerte sich Sophie Liebknecht, „abgesehen von einer großen Festung, östliche Landschaft, Schnee, wenig Menschen unterwegs, dabei ein nicht unfreundliches, gut geheiztes Landhaus […] bekam gut zu essen und zu trinken, was ich zu Hause nicht mehr gewohnt war, und hörte den Gesprächen um mich herum zu. Am Abend waren Militärs und Zivilisten da […]. Am nächsten Morgen machte ich mich [1916] mit einem mitgebrachten Weihnachtsbaum auf den Weg zur Festung […]. Die Festung hatte einen offenen Eingang, einen Hof, wo viele Soldaten arbeiteten und den man durchqueren mußte, um ins Büro zu gelangen. Dort empfing man mich kühl und höflich, prüfte die Papiere, öffnete einige mit schweren Schlüsseln verschlossene Türen und führte mich in eins der beiden Stübchen, die Rosa als Wohnraum dienten. Man war nicht streng in Wronke. Man ließ uns eine Zeitlang allein – die Aufseherin machte sich in einem Nebenraum zu schaffen – später kam sie herein und setzte sich zu uns, wir plauderten. Wovon – weiß ich nicht mehr. Die Zeit verstrich schneller, als es uns lieb war – ich mußte gehen, durfte noch einmal wiederkommen, aber erst am nächsten Vormittag. […] Ich war froh, gesehen zu haben, daß Rosa jedenfalls nicht schlecht untergebracht war. Die Zimmerchen waren hell, warm und sauber – viele Bücher und einige Photos vervollständigten den nicht unangenehmen Eindruck, allerhand Schreibzeug lag auf dem Tisch; mit vergitterten Fenstern und verschlossenen Türen mußte man sich abfinden…“. Siehe Sophie Liebknecht: Drei Besuche bei Rosa Luxemburg. In: SAPMO-BArch, NY 4001/58, Bl. 61 ff. – Rosa Luxemburg bedankte sich bei ihren Freunden für die vielen von Sophie Liebknecht mitgebrachten Geschenke und freute sich lange über den „Christbaum, der mir eine splendide Überraschung war“. Siehe GB, Bd. 5, S. 146 ff., S. 153.

Gefängnisdirektor Dr. Dossmann nahm sie 1916 mit zur Weihnachtsfeier. Über den Pfarrer, der polnisch und deutsch dieselbe Predigt hielt, habe sich Rosa Luxemburg vor Lachen geschüttelt. „Sie meinte, etwas mehr Geist könnte er doch haben und nicht dieselbe Predigt in zwei Sprachen auswendig lernen.“ Dossmann-Erinnerungen, Bl. 4.

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[1] Überschrift der Redaktion.