Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 805

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/805

genschaft der deutschen Arbeiter ist: unsere Organisationen, namentlich unsere gewerkschaftlichen Organisationen. Niemand von uns unterschätzt die Bedeutung und die Unentbehrlichkeit der gewerkschaftlichen Organisation. Aber es ist ein Irrtum, zu glauben, daß die Gewerkschaften Zweck und nicht Mittel unseres Kampfes, Pflänzchen seien, die nur in der Windstille gedeihen. Umgekehrt: Nur im schärfsten Kampfe können sie sich zur Macht entfalten. Das lehrt die Geschichte der deutschen Gewerkschaften. Aus dem Sozialistengesetze,[1] das sie erst zu zerschmettern schien, sind sie zehnfach gestärkt hervorgegangen. Wenn man nur auf ihre Kassen verweist, so versündigt man sich am Geiste der deutschen Arbeiterschaft, deren Macht nicht in ihren Kassen, sondern in ihren Herzen liegt. (Lebhafter Beifall.) Die törichte Frage: wann wollt ihr denn einen Massenstreik machen? hat ebenso viel Sinn, wie die, wann der sozialdemokratische Zukunftsstaat errichtet werden soll. (Sehr gut!) Wir sind keine Propheten, aber wir wissen, daß der Massenstreik früher oder später nicht zu vermeiden ist. Wenn man das aber weiß, darf man nicht unterlassen, die Massen darauf vorzubereiten, indem wir ihnen bei passender Gelegenheit die großen Aufgaben vor Augen stellen. Das preußische Wahlrecht[2] wird vielleicht nicht anders errungen werden können, als durch mehrere sich steigernde Massenstreiks. Oder wenn das Koalitionsrecht angetastet werden sollte, müßten wir uns da nicht sagen, daß die Arbeiterschaft das äußerste wagen muß? (Sehr richtig!) Wenn die imperialistische Politik einen Weltkrieg heraufbeschwört, glauben Sie, daß die Erziehung der Arbeiterschaft durch die Sozialdemokratie umsonst gewesen wäre, daß die deutsche Arbeiterschaft die Mordwaffe gegen ihre Brüder jenseits der Grenze führt? Das tun wir nicht und das wollen wir nicht. (Lebhafter Beifall.) Diese Wetten mögen die reichen Patrioten untereinander ausfechten und wir werden zusehen, wie weit sie kommen.

Unsere Aufgabe ist es, das Steuer der Zukunft in die eigene Hand zu nehmen. Wir müssen zu den Massen reden. Wir wissen auch, daß das Mitgliedsbuch allein keinen Sozialdemokraten macht. Auch außerhalb unserer Organisationen gehen Massen mit uns. Das dürfen wir gewiß nicht überschätzen, aber auch nicht unterschätzen. Je schärfer die Krise, um so lustiger flattert die rote Fahne auf dem Schiffe des Sozialismus. Leben und Freiheit in die Schanzen schlagen! Je deutlicher wir das den Massen sagen, desto eifriger werden sie zu unserer Fahne stehen. Wir müssen sie bei jeder Gelegenheit vertraut machen mit den ganzen Perspektiven der Geschichte und ihnen nicht verhehlen, daß wir vor gewaltige Kraftproben gestellt werden. Die Überzeugung und der unverrückbare Glaube an unser großes Endziel, das macht den sozialistischen Kämpfer. Mit uns das Volk, mit uns der Sieg. (Stürmischer Beifall.)

Volksstimme (Chemnitz),

Nr. 261 vom 10. November 1913.

Nächste Seite »



[1] Das mit 221 gegen 149 Stimmen im Deutschen Reichstag am 19. Oktober 1878 auf Druck von Otto von Bismarck angenommene Gesetz „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ trat am 21. Oktober 1878 mit seiner Verkündung in Kraft. Es stellte die deutsche Sozialdemokratie außerhalb des Gesetzes, unterwarf ihre Mitglieder Verfolgungen und Schikanen und erschwerte die Arbeit der Partei außerordentlich. Unter Druck der Massen und angesichts der Differenzen innerhalb der herrschenden Klassen, die sich im Reichstagswahlergebnis am 20. Februar 1890 widerspiegelten, lehnte der Deutsche Reichstag am 25. Januar 1890 mit 169 gegen 98 Stimmen die Verlängerung des Sozialistengesetzes in dritter Lesung ab. Siehe dazu u. a. Nach 20 Jahren. In: GW, Bd. 6, S. 232 ff.

[2] Es ging um die Beseitigung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen. Es war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlsystem galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages.