Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1011

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reißen könnte oder auch nur möchte. Und nicht wesentlich anders steht es mit einem zweiten Vorschlag des Herrn Gothein, nämlich durch den Bundesrat die Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Preußen beschließen zu lassen, denn ein solcher Beschluß des Bundesrats ist unmöglich, wenn die Stimmen der preußischen Regierung nicht für ihn abgegeben werden.

All das phantastische Zeug nimmt nun der „Vorwärts“ mit feierlichem Ernst auf,[1] derselbe „Vorwärts“, der ehedem nicht müde wurde, zu erklären, daß die Dreiklassenwahl nicht anders beseitigt werden könne, als durch den rücksichtslosen und unermüdlichen Kampf der Arbeiterklasse. Indessen wess’ Brot ich ess’, dess’ Lied ich sing’ – heute, wo der „Vorwärts“ gemeinsam mit der Fortschrittspartei im elften Berliner Landtagswahlbezirk auf dem Boden der Dreiklassenwahl die alte Sozialdemokratie bekämpft, muß er schon eine neue Melodie anstimmen.[2]

Aber außer Herrn Gothein hat er noch eine andere Liebe, nämlich „seinen“ Bethmann. Anschließend an Gotheins Vorschläge schreibt er: „Stellen wir also fest: Herr von Bethmann könnte seinen Preußen das gleiche Staatsbürgerrecht verschaffen, wenn er wollte. Und wenn sie es nicht bekommen, so liegt es daran, daß er nicht will.“ Auf dieses zärtliche Schmollen wird Herr v. Bethmann seinen jungen Leuten vom „Vorwärts“ antworten: „Kinder, so nehmt doch Vernunft an! Wollen wollte ich schon, aber Können kann ich leider nicht.“ Und damit würde Herr v. Bethmann ja so Recht haben.

Der „Vorwärts“ aber wäscht seine Hände in Unschuld. Er bewilligt dem Reichskanzler fort und fort ungeheuere Kredite, jedoch die Politik, die der Reichskanzler treibt, ist dessen Sache und geht den „Vorwärts“ beileibe nichts an. Er behält sich nur vor, wie der Chor in der griechischen Tragödie, die Politik der Regierung mit seinen Triumpheshymnen oder mit seinen Klagegesängen zu begleiten. Und wie die Fortschrittler, seine nunmehrigen Verbündeten, sich oft bei der Vorsehung beschwert haben, daß es ihnen, „Se. Majestät getreuester Opposition“, so verteufelt schlecht gehe, so naht auch die Stunde heran, wo der „Vorwärts“ triftigen Anlaß haben wird, über den Undank der Welt zu jammern.

Glücklich, wer auf dieser verzweifelten Galeere nicht mehr eingeschifft ist!

Der Kampf (Duisburg),

Nr. 40 vom 10. März 1917.

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[1] Siehe Der Weg zum Wahlrecht. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 63 vom 5. März 1917.

[2] Siehe dazu S. 1029, Fußnote 8 bzw. 9.