Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 303

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wohl durch die tiefste Erniedrigung Rußlands, die zum erstenmal das nationale Bewußtsein im Zarenreich weckt, wie später durch die Triumphe der Koalition, welche die russische intelligente Jugend nach dem Westen, nach Paris, ins Herz der europäischen Kultur führen und mit einer neuen Welt in Berührung bringen.

Wie über Nacht blüht eine russische Literatur auf, die fertig, im schimmernden Rüstzeug, wie Minerva aus Jupiters Haupte steigt – eine eigene, nationale Kunstform, eine Sprache, die den Wohllaut der italienischen mit der männlichen Kraft der englischen und dem Adel sowie dem Tiefsinn der deutschen paart, ein übersprudelnder Reichtum an Talenten, an strahlender Schönheit, an Gedanken und Empfindungen.

Die lange finstre Nacht, die Friedhofsruhe war Schein, war Trugbild. Die Lichtstrahlen aus dem Westen blieben nur als latente Kraft verborgen, die Keime der Kultur warteten nur in der Scholle auf günstigen Augenblick, um zu treiben. Die russische Literatur stand auf einmal da, als unverkennbares Glied der europäischen Literatur, in ihren Adern kreiste das Blut Dantes, Rabelais’, Shakespeares, Byrons, Lessings, Goethes. Sie holte mit einem Löwensprung die Versäumnisse eines Jahrtausends nach und trat in den Familienkreis der Weltliteratur als ebenbürtige ein.

Ein merkwürdiger Rhythmus dies in der Geschichte der russischen Literatur und eine merkwürdige Analogie zu der jüngsten politischen Entwicklung Rußlands, was wohl geeignet ist, manch braves Schulmeisterlein aus dem Konzept zu bringen.

Was aber das Kennzeichnende dieser so jäh emporgesprossenen russischen Literatur, ist, daß sie aus Opposition zu dem herrschenden Regime, aus Kampfgeist geboren wurde. Dies Zeichen trägt sie sichtbar das ganze 19. Jahrhundert hindurch. Daraus erklären sich der Reichtum und die Tiefe ihres geistigen Gehalts, die Vollendung und Originalität ihrer künstlerischen Form, namentlich aber ihre schöpferische und bewegende soziale Kraft. Die russische Literatur war unter dem Zarismus wie in keinem Lande und zu keiner Zeit eine Macht im öffentlichen Leben geworden, und sie blieb ein Jahrhundert lang auf dem Posten, bis sie von der materiellen Macht der Volksmassen abgelöst, bis das Wort zum Fleisch ward. Die schöne Literatur war es, die dem halbasiatischen Despotenstaat einen Platz in der Weltkultur erobert, die vom Absolutismus aufgerichtete Chinesische Mauer durchbrochen und eine Brücke zum Westen geschlagen hatte, um hier nicht nur als Nehmende, sondern auch als Gebende, nicht bloß als Schülerin, sondern auch als Meisterin zu erscheinen. Man braucht nur die drei Namen Tolstoi, Gogol, Dostojewski zu nennen.

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