Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 266

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Herrenhaus zu – reformieren! Daß du die Nas’ ins Gesicht behältst, sagte Onkel Bräsig. Das sind die Reformen, zu denen sich Deutschland bereits unter der Wirkung der russischen Ereignisse aufgerafft hat. Nun, sind wir nicht schön belohnt für die runden zwei Millionen Menschenleben, die der Völkermord verschlungen hat, für das Elend und den Hunger der Massen, ,für die furchtbare Steuerlast, die in Zukunft droht, für den Belagerungszustand und die geduldig ertragene dreijährige Säbeldiktatur? Macht das deutsche Volk nicht die besten Geschäfte, wenn es gehorsam nach der Pfeife der herrschenden Klassen tanzt und das Maul hält? Ein Schelm, wer das jetzt noch nicht kapiert.

Indes Scherz beiseite. Nichts hat plötzlich die erschreckende starre Reaktion, in der Deutschland versinkt, so grell beleuchtet wie gerade diese grotesken „Reform“ versuche im Feuerschein des russischen Brandes. Wer denkt da nicht an jene alte Tante, die bei der Nachricht vom bevorstehenden Zusammenprall der Erde mit dem Kometen schleunigst ihre ältesten Mantillen aus der Truhe hervorholte, um die Motten aus ihnen auszuklopfen. Nach Rußland, dem gestrigen „Kosakenland”, pilgert heute alles wie die heiligen drei Könige aus dem Morgenlande nach Bethlehem an die Wiege des Erlösers, indes Deutschland – das Land der „konstitutionellen Freiheiten” – seine ostelbischen Komposthaufen aufdeckt, um sie ein wenig umzurühren, und in den infernalischen Düften, die dabei aufsteigen, so recht wie eine Vogelscheuche aus dem Mittelalter wirkt. Solche Verschiebungen des politischen Erdprofils bringen in 24 Stunden revolutionäre Vulkanausbrüche fertig!

Aber auch das deutsche Proletariat steht noch im großen und ganzen verdutzt da und denkt, die Revolution geschehe in Rußland und sei nur ein erfreuliches und erbauliches Schauspiel in der Nachbarschaft. Es begreift nicht, daß es seine eigene Sache ist, die Sache des einen und unteilbaren Internationalen Proletariats, das dort den ersten Anlauf zur welthistorischen Auseinandersetzung mit der Klassenherrschaft des Kapitals nimmt. Noch weniger begreifen dies diejenigen „Führer” des deutschen Proletariats, die zu ihrem Unglück in der Schule der alten deutschen Sozialdemokratie groß oder richtiger klein geworden sind. Die Arbeitsgemeinschaft reagierte auf die russische Revolution durch Aufstellung eines ganz neuen „Aktionsprogramms”[1], und darunter versteht sie – eine

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[1] Die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft legte dem Reichstag am 29. März 1917 ein Aktionsprogramm vor, in dem sie u. a. den schleunigen Abschluß eines Friedens ohne Annexionen, Wahlrechtsreformen, das Entscheidungsrecht des Reichstages über Krieg und Frieden, die Entlassung des Reichskanzlers auf Beschluß des Reichstages sowie die Aufhebung von Ausnahmebestimmungen forderte. Der Abschluß eines Friedens und die Aufhebung der Ausnahmebestimmungen wurden vom Reichstag am 30. März 1917 abgelehnt, die anderen Anträge einem Verfassungsausschuß überwiesen. – Im Reichstag hatten am 24. März 1916 außer Karl Liebknecht und Otto Rühle 18 sozialdemokratische Abgeordnete gegen den Notetat der Regierung gestimmt. In der folgenden Fraktionssitzung wurden die 18 Abgeordneten aus der sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen. Sie bildeten daraufhin als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft” eine eigene Reichstagsfraktion. Karl Liebknecht war schon am 12. Januar 1916 aus der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ausgeschlossen worden, Otto Rühle aus Solidarität mit Liebknecht am 14. Januar aus der Fraktion ausgetreten.