Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 377

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bern hervorgeholte Kabinettsorder von 1820 ist somit für die Sachlage in ihrem ganzen Umfang symbolisch: Der Vormärz gilt jetzt in Deutschland, und das reichsdeutsche Parlament nähert sich an politischer Bedeutung und geschichtlicher Funktion um einen Schritt mehr der russischen Duma. Die historische Dialektik weiß wieder einmal die schroffen Gegensätze des liberalen Formelkrams: Absolutismus und Parlamentarismus, zu einer artigen Synthese zu verschmelzen, indem sie den Parlamentarismus zum dünnen Feigenblatt des militärischen Absolutismus macht.

Der bürgerliche Parlamentarismus ist eben nur eine wirkliche politische Macht, wo zwischen Bourgeoisie und Feudalaristokratie ernsthafte Klassengegensätze bestehen, große Klassenkämpfe ausgefochten werden. Wo hingegen die Bedingungen der geschichtlichen Entwicklung dahin führen, das kapitalistische Bürgertum mit dem feudalen Junkertum durch übermächtige Gemeinsamkeit der Klasseninteressen politisch zusammenzuschweißen, da schwindet die geschichtliche Grundlage des Parlamentarismus, und es ist nur eine Frage der Umstände, wann seine innere Aushöhlung an den Tag tritt. Im heutigen Deutschen Reich begann dieses Zusammenschweißen der Bourgeoisie mit dem Junkertum schon bei jenem denkwürdigen Handel zwischen den Nationalliberalen und konservativen Maklern um den Zolltarif von 1877[1], bei dem man nach dem Zeugnis eines Abgeordneten in der Kulisse des Reichstags hören konnte: „Geben Sie 50 für Roggen, gebe ich den Eisenzoll“, oder: „Verwerfen Sie die Herabsetzung des Eisenzolls, so gebe ich Ihnen den Roggen.“ Dieses Zusammenschweißen machte einen Schritt weiter mit dem Sozialistengesetz. Es wurde gestärkt 1899 durch das große Flottengesetz[2], mit dem das Zentrum endgültig aus dem Lager der Opposition in das Regierungslager hinübertrat. Es wurde vollendet durch den Hungerzolltarif 1902[3], als der Freisinn durch seinen Führer Eugen Richter den junkerlichen Krippenreitern den Steigbügel hielt. Es ist besiegelt worden mit der imperialistischen Militärvorlage des Jahres 1913[4], die den ganzen bürgerlichen

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[1] Das Schutzzollsystem, das die ökonomische Grundlage für das Bündnis zwischen Junkertum und dem reaktionärsten Teil der Großbourgeoisie bildete, war nach jahrelanger propagandistischer Vorbereitung am 12. Juli 1879 im Reichstag mit den Stimmen der Konservativen, des Zentrums und einiger Nationalliberaler beschlossen worden.

[2] Am 28. Oktober 1899 war in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ der Plan veröffentlicht worden, die deutsche Kriegsflotte durch erhöhtes Tempo des Kriegsschiffsbaus über das im Flottengesetz vom März 1898 vorgesehene Maß hinaus zu vergrößern. Das zweite Flottengesetz, das die Verdoppelung der Schlachtflotte vorsah, wurde am 12. Juni 1900 vom Reichstag beschlossen und diente der Verwirklichung der Expansionspolitik des deutschen Imperialismus.

[3] Am 14. Dezember 1902 waren im Reichstag ein neues Zollgesetz und neue Zolltarife beschlossen worden, durch die die Agrar- und einige Industriezölle wesentlich erhöht wurden. Die Sozialdemokraten, die mit allen parlamentarischen Mitteln und unterstützt durch eine breite Protestbewegung in ganz Deutschland gegen den Zollwucher gekämpft hatten, wurden durch wiederholten Bruch der Geschäftsordnung des Reichstags bei ihrem Auftreten im Plenum behindert. Die neuen Zolltarife traten am 1. März 1906 in Kraft und brachten der Mehrheit der Bevölkerung eine erhebliche Verschlechterung ihrer Lebenslage.

[4] Ende März 1913 war im Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10 000 Mark aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der werktätigen Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe [dem sogenannten Wehrbeitrag] und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß mit Verweis auf die Fraktionsdisziplin der Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückt wurde. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“