Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 124

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Unser Wahlsieg und seine Lehren. Rede am 1. März 1912 in Bremen

Nach einem Zeitungsbericht

Parteigenossen und -genossinnen! Mit einem herrlichen Gefühl des Triumphes und der Freude kommen wir heute zusammen. Auch der Bremer Wahlkreis gehört zu denjenigen, die im vergangenen Wahlkampf von der Sozialdemokratie erobert wurden. Wir haben allen Anlaß, auf die gelieferte Schlacht des 12. Januar[1] mit Stolz zurückzublicken. Allein, Parteigenossen, die Sozialdemokratie ist eine Partei des Kampfes, der es nicht vergönnt ist, die Freude eines ausgefochtenen Sieges lange zu genießen. Der Sozialdemokratie ist die Zeit nicht gegeben, auch nur wenige Stunden auf ihren Lorbeeren auszuruhen. Je größer der errungene Sieg, um so größer sind auch die Aufgaben und die Pflicht, die vor uns erstehen. Wir sind eine Partei der Selbstkritik. Wir schöpfen die Richtlinien für unseren Kampf aus unserem Kampfe selbst und aus den täglichen Erfahrungen. Für uns gibt es nirgends eine im voraus gegebene, in irgendeinem Buche festgelegte Marschroute, an die wir uns, wie der fromme Christ an die Bibel, halten könnten. Wir haben uns nicht etwa an dem herrlichen Sieg des 12. Januar blindlings zu berauschen, sondern wir haben nüchtern, ernst und unerbittlich an uns selbst und an der uns umgebenden Welt Kritik zu üben und uns zu fragen: Welchen Umständen haben wir den Sieg zu verdanken? Was folgt aus diesem Siege, und welche weiteren Aufgaben ergeben sich aus der gewonnenen Schlacht?

Ich habe gesagt, der 12. Januar war ein Tag des herrlichen Sieges für die deutsche Sozialdemokratie. Man kann mehr sagen, er war es für die ganze internationale Arbeiterklasse. Das hat jeder von uns mitgefühlt, als er die Kunde von dem großartigen Siege empfangen hat. Damit will ich nicht den Gedanken ausdrücken, daß wir von dem parlamentarischen

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[1] Siehe S. 6, Fußnote 3.