Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 344

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Anders auf dem diesjährigen Parteitag. Was an Streitfragen zur Debatte stand, waren zwei rein praktische Probleme, die jeden aufgeklärten Arbeiter, ob gewerkschaftlich oder politisch tätig, unmittelbar angehen und packen müssen, Probleme, die nicht in der Studierstube von einem irre gewordenen Theoretiker ausgeheckt oder durch irgendeinen Seitensprung unserer süddeutschen Parlamentarier zur Überraschung der Gesamtpartei plötzlich aufs Tapet gebracht worden waren. Es waren veränderte allgemeine Bedingungen unseres Kampfes, die uns in Jena die Debatte über den Massenstreik wie diejenige über die Steuerfrage aufgenötigt haben.

In der Frage des Massenstreiks nahm der diesjährige Parteitag freilich nur einen Gegenstand auf, der bereits 1905 und 1906 zur Debatte und zur Entscheidung gestanden hatte. Scheinbar war das Problem durch die prinzipielle Anerkennung des Massenstreiks bereits gelöst, und da praktisch niemand eine sofortige Proklamierung des Massenstreiks in Deutschland ins Auge faßte, so mochte die Erörterung zwecklos erscheinen. So ist die Sache auch von den Vertretern des Parteivorstandes und seinen Theoretikern hingestellt worden. Ein zweckloser Streit um Worte, und sogar ein schädlicher Streit, der unsere gegenwärtige Ohnmacht dem Feinde verrät – so wurde die Debatte über den Massenstreik von den Wortführern der Mehrheit auf dem Parteitag gekennzeichnet. Und doch beweist nichts besser als diese Auffassung selbst, wie sehr der Jenaer Beschluß in Sachen des Massenstreiks 1905[1] für unsere praktischen wie theoretischen „Instanzen“ ein toter Buchstabe geblieben ist, wie sehr eine neue Debatte notwendig war und notwendig bleibt, um diesen Buchstaben des Gesetzes allmählich in den lebendigen Blutkreislauf der Partei zu überführen.

Der Jenaer Beschluß vom Jahre 1905 war unter dem unmittelbaren Einfluß der russischen Revolution und ihres siegreichen Vordringens gefaßt worden. Er fiel in eine Periode großer Kämpfe, revolutionärer Stimmungen und eines allgemeinen Vorrückens der proletarischen Armee in Europa. Im Januar desselben Jahres wurde die deutsche Öffentlichkeit schon durch den Riesenkampf der Bergarbeiter im Ruhrrevier[2] aufs tiefste aufgewühlt. In Österreich schlug der Kampf um das allgemeine, gleiche Wahlrecht, gleichfalls unter dem Einfluß der russischen Revolution, die höchsten Wellen[3]. Revolutionäre Entschlossenheit und Glaube an die eigene Macht der Arbeiterklasse, die als lebendige Stimmung da-

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[1] Die auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 17. bis 23. September 1905 in Jena beschlossene Resolution bezeichnete die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung als eines der wirksamsten Kampfmittel der Arbeiterklasse, beschränkte allerdings die Anwendung des politischen Massenstreiks im wesentlichen auf die Verteidigung des Reichstagswahlrechts und des Koalitionsrechts.

[2] Vom 7. Januar bis 19. Februar 1905 hatten etwa 215 000 Bergarbeiter im Ruhrrevier für den Achtstundentag, für höhere Löhne und für Sicherheitsvorkehrungen gestreikt. An diesem Ausstand waren gemeinsam die freigewerkschaftlichen, die christlichen und Hirsch-Dunckerschen Bergarbeiterverbände, die Polnische Berufsvereinigung sowie unorganisierte Arbeiter beteiligt. Die von reformistischen Gewerkschaftsbeamten und den Führern der bürgerlichen Gewerkschaften beherrschte Streikleitung beschloß den Abbruch des Streiks und machte ihn dadurch ergebnislos.

[3] Im September 1905 war es in Österreich-Ungarn zum ersten politischen Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht gekommen. Die fortgesetzten Protestbewegungen zwangen die österreichische Regierung, im Januar 1907 dem Parlament ein Gesetz über die Einführung des allgemeinen Wahlrechts vorzulegen.