Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 251

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gerade sein zu lassen, ist aber nur ein Gegenstück zu dem gedankenlosen Offiziösentum in unsern Reihen, das alles, was in der Partei geschieht, stets herrlich findet. Die geschichtliche Entwicklung, die so manchen schweren Block aus ihrem Wege zu räumen weiß, wird auch noch mit unsrer Schwerfälligkeit fertig. Wie sehr sie versteht, auch den bedächtigsten und friedfertigsten Leuten unter Umständen Dialektik einzupauken, zeigt wieder der Verlauf der soeben beendeten achten Generalversammlung der deutschen Buchdrucker[1]. Der Ton der allgemeinen Unzufriedenheit und tiefen Beunruhigung, der in dieser Versammlung als Echo der technischen Umwälzungen der Produktion vorherrschte, zeigt, daß auch der deutsche Bär, dem man so wenig zutraut, auf der heißen Platte der historischen Entwicklung allmählich tanzen lernt.

Sachlich von Wichtigkeit und einer ernsten Untersuchung wert ist die Frage von der Rolle sozialdemokratischer Organisationen in den proletarischen Massenkämpfen im allgemeinen. Merkwürdig genug ist freilich, daß die stärksten Zweifel an der Reife der Arbeiterschaft zu Massenaktionen gerade in dem Lande auftauchen, wo die Sozialdemokratie wie die Gewerkschaften die größte Macht erreicht haben. In Schweden und Holland, in Belgien und Italien, in Spanien und in Rußland, in Frankreich und in Österreich, in der Schweiz und in Ungarn haben wir seit einem Dutzend von Jahren zahlreiche Massenstreiks verschiedener Art erlebt, nur in Deutschland, dem Musterland der Organisation, der Disziplin und der Wahlsiege, soll das Proletariat zum Massenstreik noch nicht reif sein! Solche Ansichten gäben ein trauriges Zeugnis für den Wert unsrer Organisationen ab, wären sie nicht selbst bloß der Ausfluß eines auffallenden Mangels an historischer Perspektive.

Wir sollen offenbar erst dann zu Massenstreiks „reif“ sein, wenn der letzte Mann und die letzte Frau aus der Arbeiterklasse eingeschriebene Mitglieder des sozialdemokratischen Vereins geworden sind. Bei allem löblichen Eifer für die Organisationsarbeit spricht aus solchen Ansichten eine gefährliche Unterschätzung der geschichtlichen Rolle und der Aktionsfähigkeit der unorganisierten Masse. Man muß sich schließlich an den Kopf fassen und fragen: Wie ist denn die Weltgeschichte bisher ohne uns, ohne Wahlvereine, ohne den sozialdemokratischen Parteivorstand und die Fraktion, ausgekommen? Der Klassenkampf ist – was man in unsern Reihen nur zu oft vergißt – nicht ein Produkt der Sozialdemokratie, umgekehrt: Die Sozialdemokratie ist selbst nur ein Produkt des Klassen-

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[1] Die achte Generalversammlung des Verbandes der Deutschen Buchdrucker fand am 16. Juni 1913 in Danzig statt.