Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 202

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der Partei mit aller Energie dazwischen, um vom Streik abzumahnen. Da sich der Sturm des Volkswillens nicht anders bannen ließ, schlug man den Arbeitern vor, den bereits begonnenen Massenstreik abzurüsten, um einen Massenstreik ganz systematisch vorzubereiten. Der vorbereitete, methodische Massenstreik erschien so von vornherein als ein Kompromiß zwischen der stürmenden Kampfenergie der Massen und der Streikabneigung der Parteiführer, die trotz aller bitteren Erfahrungen an der Allianz mit dem Liberalismus und an parlamentarischen Hoffnungen festhielten. Es war also wohlgemerkt nicht eine freie taktische Erfindung, die hier eine neue Streikmethode als die wirksamste ersonnen hatte. Die Vorbereitung zum Massenstreik von langer Hand erschien diesmal als ein Mittel, die Arbeitermassen zu beschwichtigen, ihre Kampfbegeisterung zu zähmen, sie von der Bühne vorläufig abtreten zu lassen. Und nun, nachdem alle Energie der Arbeiterschaft während sieben Monaten ausschließlich auf die Vorbereitung des Generalstreiks gerichtet wurde, war es die Parteiführerschaft, die sich bis zuletzt dem Beginn des Streiks mit aller Energie widersetzte, ihn möglichst hinauszuschieben suchte. Nachdem im Februar die strikte Ablehnung der Wahlreform im Parlament die Festsetzung des Generalstreiks auf den 14. April erzwungen hatte, suchten die Parteiführer noch im letzten Augenblick, im März, sich auf ein vermittelndes Dazwischentreten liberaler Bürgermeister stützend, den Streikbeschluß wieder aufzuheben. Im letzten Moment, als auch diese Hoffnung auf die liberale Mitwirkung wie eine Seifenblase zerplatzte, wurde der Streik nur unter dem unbezähmbaren Drang der ungeduldigen Masse und gegen die Abmachungen eines Teils der Führer beschlossen.

So kam der Aprilstreik schließlich nach neun Monaten Vorbereitung und nach wiederholten Versuchen, ihn zu verhindern und hinauszuschieben, mit Hängen und Würgen zustande. Materiell war er freilich so wohlvorbereitet wie noch kein Massenstreik der Welt. Wenn gefüllte Hilfskassen und gutorganisierter Nahrungsmittelvertrieb über den Ausgang einer Massenbewegung entscheiden würden, dann müßte der belgische Generalstreik im April Wunder wirken können. Die revolutionäre Massenbewegung ist aber leider kein Rechenexempel, das man mit den Kassenbüchern der Gewerkschaften oder in den Vorratsläden der Konsumgenossenschaften lösen kann. Das Entscheidende in jeder Massenbewegung ist die revolutionäre Energie der Massen und die entsprechende Entschlossenheit und Zielklarheit ihrer Führer. Diese beiden Momente zusammen können unter Umständen die größten materiellen Entbehrungen

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