Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 320

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tigste Maßregel ist aber wohl die im Januar 1898 erfolgte Einführung des gesetzlichen 111/2 stündigen Maximalarbeitstages für Fabriken und Werkstätten, was angesichts der bisherigen wirtschaftlichen Raubwirtschaft in dem wichtigsten russischen Industriebezirk, dem Moskauer, eine ganze Umwälzung und Europäisierung seiner Produktionsmethoden bedeutet.

Weitere im verflossenen Jahre ausgearbeiteten Pläne aus der Wirtschafts- und Sozialpolitik beweisen ebenso wie die bereits durchgeführten, daß die Zarenregierung unentwegt „an der Spitze der Kultur“ marschiert: einerseits eine landwirtschaftliche Hochschule für Frauen, andererseits weibliche Fabrikinspektoren (!), das sind die neuesten Pläne der russischen Regierung, die bereits auf dem Wege gesetzgeberischer Vorarbeit sind.

Auf dem Gebiete des Finanzwesens, das im Jahre vorher durch die Einführung der Goldwährung umgestaltet wurde, bildete die wichtigste Maßnahme des verflossenen Jahres die nun in Kraft tretende Reform der Gewerbebesteuerung, deren Erhebungsweise der bereits erreichten Entwicklungshöhe der Industrie Rechnung tragen und dem Staatssäckel rund weitere 30 Millionen Rubel zuführen soll.

Es ist für die Zarenregierung die höchste Zeit, sich nach neuen Einnahmequellen umzusehen, denn die wichtigste bisherige – die Bauernschaft – fängt an, endgültig zu versagen: Auch das Jahr 1898 war, kaum fünf Jahre nach der schrecklichen letzten Hungersnot, schon wieder ein Hungerjahr. Die ganze östliche Zone, die an sich zu den fruchtbarsten Gegenden Rußlands gehört, ist von einer Mißernte heimgesucht worden, der in urwüchsigster Weise viel mehr beraubte als bebaute Boden versagte abermals. Nun rächt sich an dem Absolutismus seine eigene jahrhundertelang geübte Politik des rücksichtslosen Aussaugens der Bauernmasse: Er muß nun aus eigenen Mitteln Millionen seiner Steuerzahler selbst erhalten. Das anfängliche Ableugnen der Hungersnot half nichts. Es half nichts, daß die Regierung das von der Freien Ökonomischen Gesellschaft gebildete Rettungskomitee auflöste und die Gesellschaft selbst zur Strafe reorganisierte und daß sie die Presse für jede Nachricht von der Hungersnot mit Verfolgungen drangsalierte.

Das furchtbare Elend in den 19 östlichen Gouvernements, die himmelschreiende Not ließen sich nicht lange vertuschen, die nackte Tatsache drang in die Öffentlichkeit durch. Das Bild, von dem nun der Schleier des Geheimnisses gelüftet wurde, war schrecklich. Ein Augenzeuge schrieb im November in der „Nowoje Wremja“ über seinen Besuch in einem Städtchen der Hungerzone:

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